Leitsatz (amtlich)
Für einen Hauer, der diese Tätigkeit wegen der Folgen eines Unfalls nicht mehr verrichten kann, kommt eine Erhöhung der MdE nach RVO § 581 Abs 2 nur dann in Betracht, wenn die Differenz zwischen dem effektiven Netto-Hauerdurchschnittslohn des Tarifgebiets und dem noch von ihm erzielbaren Nettolohn einschließlich seiner Verletztenrente mindestens 10 % beträgt.
Normenkette
RVO § 581 Abs. 2 Fassung: 1963-04-30, § 622 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. April 1975 aufgehoben; der Rechtsstreit wird an dieses Gericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt war, die dem Kläger gewährte Verletztenrente von 50 auf 40 v. H. der Vollrente herabzusetzen.
Der Kläger erlitt nach langjähriger Tätigkeit als Hauer am 25. August 1961 einen Arbeitsunfall, wegen dessen Folgen er von der Knappschaft zunächst die Bergmannsrente und seit 1968 die Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit erhielt. Die Beklagte gewährte ihm die Verletztenrente, die sie im Jahre 1970 wegen einer Verschlimmerung der Unfallfolgen von 30 auf 50 v. H. der Vollrente erhöhte. Mit Bescheid vom 16. März 1971 setzte sie die Verletztenrente mit Wirkung vom 1. Mai 1971 auf 40 v. H. der Vollrente herab, weil nach dem vorliegenden medizinischen Gutachten eine entsprechende Besserung der Unfallfolgen eingetreten sei.
Der Kläger, der zunächst eine Besserung der Unfallfolgen bestritten hatte, stützte nach Einholung eines medizinischen Gutachtens seine Klage im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) auf § 581 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Das SG hat die Klage mit Urteil vom 17. Januar 1974 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 15. April 1975 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe besondere schadenserhöhende Nachteile im Sinne des § 581 Abs. 2 RVO nicht erlitten. Da er noch in der Lage sei, Tätigkeiten der Lohngruppe 04 über Tage zu verrichten, könne er mehr als 40 v. H. des effektiven Hauerdurchschnittslohns seiner Schachtanlage verdienen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) sei mit 40 v. H. daher nicht zu gering bemessen. Dem Umstand, daß der Kläger infolge des Arbeitsunfalls berufliche Fachkenntnisse und Erfahrungen nicht mehr verwerten könne, werde auch dadurch Rechnung getragen, daß die Unfallrente nach dem Jahresarbeitsverdienst (JAV) der vor dem Unfall ausgeübten Erwerbstätigkeit errechnet sei. Eine unbillige Härte liege auch nicht darin, daß sich die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung dadurch mindern, daß der Kläger infolge des Unfalls eine minderbezahlte Arbeit verrichten müsse und deshalb die Beiträge zur Rentenversicherung geringer seien. Auch der konkrete Verdienstausfall könne zur Begründung einer unbilligen Härte nicht herangezogen werden. Dieser Verdienstausfall werde zwar nicht durch die nach einer MdE von 40 v. H. bemessene Unfallrente, wohl aber unter Berücksichtigung der knappschaftlichen Rentenleistung angemessen ausgeglichen. Diese Renten, die dem Kläger wegen der Unfallfolgen gewährt worden seien, dienten auch dem Ausgleich von Verdiensteinbußen, die infolge unfallbedingter Aufgabe des qualifizierten Berufes eintreten. Die Regelung des § 30 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) könne zur Bewertung der MdE nicht herangezogen werden, denn sie gehe weiter als die des § 581 Abs. 2 RVO.
Der Kläger hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Er ist der Ansicht, die Voraussetzungen des § 581 Abs. 2 RVO für eine Erhöhung der MdE auf 50 v. H. lägen vor. Bei der Feststellung der durch die Unfallfolgen bedingten Lohneinbuße müsse auch die Bergmannsprämie berücksichtigt werden. Die aufgrund der Unfallfolgen gewährten Rentenleistungen müßten bei der Frage eines angemessenen Härteausgleichs außer acht gelassen werden.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils und teilweiser Abänderung ihres Bescheides vom 16. März 1971 zu verurteilen, dem Kläger vom 1. Mai 1971 an anstelle einer Verletztenrente von 40 v. H. eine solche von 50 v. H. zu gewähren,
hilfsweise,
das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision des Klägers sei unbegründet.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist mit ihrem Hilfsantrag auf Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz begründet. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.
Nach § 622 Abs. 1 RVO ist eine neue Feststellung zu treffen, wenn in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Leistung maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Änderung eintritt. Das LSG hat zwar nicht ausdrücklich festgestellt, ob und in welchem Umfang seit der bindend gewordenen Rentenfeststellung vom 14. April 1970 in den Unfallfolgen eine Änderung eingetreten ist. Das LSG ist aber offensichtlich mit den übereinstimmenden medizinischen Gutachten von einer entsprechenden Besserung der Unfallfolgen ausgegangen, die es auch mit Rücksicht auf den Vortrag der Beteiligten für so selbstverständlich hielt, daß ihm eine ausdrückliche Feststellung überflüssig erschien. Wenn danach auch von einer Besserung der Unfallfolgen und einer nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO zu bemessenden MdE von 40 v. H. auszugehen ist, so rechtfertigt sich die Herabsetzung der Verletztenrente auf 40 v. H. der Vollrente doch nur dann, wenn die MdE auch unter Berücksichtigung des § 581 Abs. 2 RVO nicht höher als 40 v. H. zu bemessen ist.
Nach § 581 Abs. 2 RVO sind bei der Bemessung der MdE zusätzliche Nachteile zu berücksichtigen, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Unfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann, ausgeglichen werden. Diese Vorschrift, die das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) mit Wirkung vom 1. Juli 1963 eingeführt hat, ist nach Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG auch für die vor dem 1. Juli 1963 eingetretenen Versicherungsfälle anwendbar (vgl. BSG in SozR Nr. 2 zu § 581 RVO). Sie soll sicherstellen, daß bei der Feststellung des Grades der MdE die besonderen Verhältnisse des Verletzten berücksichtigt werden, soweit sie für das Erwerbsleben Bedeutung haben können (vgl. BT-Drucks. IV/120 Begründung zu § 581 S. 58). Wenn auch bei der Festsetzung der MdE die in der gesetzlichen Unfallversicherung anzuwendenden Grundsätze der abstrakten Schadensbemessung und der Verweisung des Unfallverletzten auf das Gesamtgebiet des Erwerbslebens maßgebend sind, so ermöglicht § 581 Abs. 2 RVO doch die Vermeidung unbilliger Härten durch zusätzliche Berücksichtigung der besonderen Verhältnisse eines Verletzten. Jedoch hat der Umstand, daß ein Versicherter infolge eines Arbeitsunfalles den erlernten Beruf nicht mehr ausüben kann, nicht zwangsläufig eine über die Grundsätze der abstrakten Schadensbemessung hinausgehende Höherbewertung der MdE zur Folge. Als wesentliche Merkmale für die Beurteilung der Frage, ob eine höhere Bewertung der MdE nach § 581 Abs. 2 RVO gerechtfertigt ist, hat das Bundessozialgericht (BSG) insbesondere das Alter des Verletzten, die Dauer der Ausbildung sowie vor allem auch die Dauer der Ausübung der speziellen beruflichen Tätigkeit und auch den Umstand bezeichnet, ob die bisher verrichtete Beschäftigung eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistete (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 10. September 1971 in SozR Nr. 12 zu § 581 RVO im Anschluß an SozR Nr. 10 zu § 581 RVO). Andererseits ist die Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit auch nicht auf Versicherte mit künstlerischer oder geistig-schöpferischer Tätigkeit oder auf solche Versicherte beschränkt, die innerhalb ihres erlernten Berufes noch eine besonders qualifizierte Stellung einnehmen, wenn auch in solchen Fällen die Nichtberücksichtigung der beruflichen Betroffenheit besonders auffällig in Erscheinung treten kann (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 13. Mai 1966 - 5 RKn 3/64 -; ebenso Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl. 1976, Anm. 9 zu § 581 S. 472/2). Bei der Beurteilung der besonderen Verhältnisse des Klägers ist zu berücksichtigen, daß er vor dem Unfall nach üblicher Berufsentwicklung fast 10 Jahre lang als Hauer tätig war. Der Hauer ist der qualifizierte Facharbeiter innerhalb des Bergmannsberufs mit besonderen beruflichen Kenntnissen und Erfahrungen und mit einer wirtschaftlich hervorgehobenen Stellung, weil für seine Tätigkeit die besondere Gedingeentlohnung charakteristisch ist. Für einen Hauer können sich im Verhältnis zu anderen Versicherten mit gleicher Unfallschädigung zusätzliche Nachteile daraus ergeben, daß er seine Tätigkeit nicht mehr verrichten und damit seine erworbenen beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen nicht mehr nutzen kann, mithin dadurch einen erheblichen Verdienstausfall hat, daß er nicht mehr im Gedinge tätig sein kann (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 13. Mai 1966 - 5 RKn 3/64 -; ebenso in SozR Nr. 12 zu § 581 RVO). Für die Bewertung der wirtschaftlichen Nachteile, die dem Versicherten aus dem Unfall erwachsen sind, ist - wie der Senat in den zitierten Entscheidungen bereits ausgeführt hat - vom effektiven Hauerdurchschnittslohn des Tarifgebiets, hilfsweise vom Hauerdurchschnittslohn der Schachtanlage und nur ausnahmsweise vom individuell erzielten Gedingelohn auszugehen. Das LSG hat es versäumt, die Höhe des für die streitige Zeit geltenden effektiven Hauerdurchschnittslohnes des Tarifgebietes festzustellen und ist zu Unrecht vom effektiven Hauerdurchschnittslohn der Schachtanlage ausgegangen, der nur hilfsweise, also nur dann von Bedeutung sein kann, wenn ein effektiver Hauerdurchschnittslohn des Tarifgebiets nicht feststellbar ist. Da der erkennende Senat als Revisionsgericht die fehlende Tatsachenfeststellung, die für die Entscheidung des Rechtsstreits wesentlich ist, nicht nachholen kann, hat er das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen.
Bei der erneuten Entscheidung wird das LSG die Differenz zwischen dem effektiven Hauerdurchschnittslohn des Tarifgebietes und dem vom Kläger mit der verbliebenen Erwerbsfähigkeit erzielbaren Lohn zu ermitteln haben. Dabei ist nicht der jeweilige Bruttolohn, sondern der Nettolohn dem Vergleich zugrunde zu legen, der sich nach dem durchschnittlichen Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen ergibt. Diese Reduzierung des Bruttolohnes auf den durchschnittlichen Nettolohn ist aus praktischen Gründen erforderlich, weil sich der berücksichtigungsfähige wirtschaftliche Nachteil um die Verletztenrente mindert, auf die der Versicherte nach § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO Anspruch hat. Ist die Verletztenrente aber bei der Ermittlung des Einkommensverlustes dem mit der verbliebenen Erwerbsfähigkeit erzielbaren Lohn zuzurechnen, so muß dieser Lohn auf den Nettobetrag zurückgeführt werden, weil auch die Verletztenrente als Nettoeinkommen festgestellt wird. Die Addierung von Bruttolohn und Nettorente würde zu einem Mischbetrag führen, der weder als Brutto- noch als Nettoeinkommen bezeichnet werden könnte. Da nur Vergleichbares miteinander verglichen werden kann, müssen die Löhne sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite der netto gezahlten Verletztenrente angepaßt und daher auf den Nettobetrag zurückgeführt werden, zumal auch der effektive Einkommensverlust sich aus der Differenz der Nettobeträge ergibt. Bei der Errechnung der Nettolöhne ist nicht von den individuellen Verhältnissen auszugehen. Vielmehr sind die durchschnittlichen Abzüge an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen anzusetzen. Dabei kann § 111 Abs. 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) herangezogen werden.
Da die Verletztenrente dem Ausgleich des durch die Unfallfolgen entstandenen wirtschaftlichen Schadens dient, kann sie nach § 581 Abs. 2 RVO nicht erhöht werden, wenn ohnedies die eingetretene Lohneinbuße durch die Verletztenrente angemessen ausgeglichen ist. Aus diesem Grunde wird auch in der Kriegsopferversorgung nach § 30 Abs. 4 BVG bei der Ermittlung des Einkommensverlustes die Ausgleichsrente dem derzeitigen Einkommen zugerechnet. Die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung muß allerdings auch dann unberücksichtigt bleiben, wenn der Versicherungsfall ausschließlich auf den Unfallfolgen beruht. Abgesehen davon, daß der Rentenanspruch in der gesetzlichen Rentenversicherung unabhängig davon ist, ob und in welchem Umfang Unfallfolgen am Versicherungsfall beteiligt sind, so daß diese Frage in den meisten Fällen kaum zu beantworten sein wird, ist in den §§ 75 RKG, 1278 RVO, 56 AVG abschließend geregelt, welche Folgen das Zusammentreffen einer Verletztenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit einer Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung hat.
Entgegen der Ansicht des Klägers kann bei der Ermittlung des Einkommensverlustes die Bergmannsprämie nicht berücksichtigt werden. Zwar erleidet der Versicherte, der wegen der Unfallfolgen eine durch die Bergmannsprämie begünstigte Arbeit nicht mehr verrichten kann, durch den Verlust der Bergmannsprämie einen wirtschaftlichen Nachteil. Es ist aber nicht Aufgabe der Verletztenrente, solche wirtschaftlichen Nachteile, die nicht auf einer Lohneinbuße beruhen, auszugleichen. Es ergibt sich aus § 4 des Bergmannsprämiengesetzes, daß die Bergmannsprämie nicht Bestandteil des Lohnes ist (vgl. BSG in SozR 2600 Nr. 7 zu § 45). Sie bleibt daher auch bei der Berechnung des JAV unberücksichtigt und kann nicht über die Bemessung der MdE die Höhe der Verletztenrente beeinflussen. Im übrigen wird die Bergmannsprämie auch an solche unter Tage Beschäftigte gezahlt, die nicht die besonderen beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen eines Hauers haben. Der Verlust der Bergmannsprämie beruht also nicht auf dem nach § 581 Abs. 2 RVO allein zu berücksichtigenden Umstand, daß der Versicherte die besonderen beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen eines Hauers nicht mehr nutzen kann, sondern auf dem nicht zu berücksichtigenden Verlust der Fähigkeit, unter Tage zu arbeiten.
Ergibt sich bei der danach anzustellenden Vergleichsberechnung eine Differenz von mindestens 10 v. H., so kann die MdE und damit die Verletztenrente entsprechend erhöht werden.
Eine geringere Differenz muß dagegen unberücksichtigt bleiben. Abgesehen davon, daß nach der bisherigen Rechtsprechung nach § 581 Abs. 2 RVO nicht jeder Nachteil, sondern nur Härten auszugleichen sind, entspricht es auch der zu § 622 RVO entwickelten Rechtsprechung, daß die den Grad der MdE betreffenden Änderungen in den Unfallfolgen nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie mehr als 5 v. H. und damit praktisch 10 v H. betragen (vgl. BSG in SozR Nr. 11 zu § 622 RVO).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen