Leitsatz (amtlich)
Hat der Versicherte bis zu seinem Tode Rente bezogen, so gilt die Rentenbezugszeit vor Vollendung des 55. Lebensjahres als Zurechnungszeit (vergleiche BSG 1971-12-01 12 RJ 96/70 = SozR Nr 21 zu § 1268 RVO) auch für die Berechnung der Witwenrente nach RVO § 1268 Abs 1, nicht dagegen als Ausfallzeit.
Normenkette
RVO § 1268 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 Fassung: 1957-02-23, § 1260 Abs. 1 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. August 1971 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die vor Vollendung des 55. Lebensjahres liegende Rentenbezugszeit eines Versicherten bei der Berechnung der sogenannten kleinen Witwenrente (§ 1268 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) als Ausfallzeit (§ 1259 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 RVO) zu berücksichtigen ist.
Die Klägerin ist die Witwe des im Jahre 1915 geborenen und im Jahre 1969 verstorbenen Versicherten. Ihm war im Jahre 1954 Invalidenrente gewährt worden, die mit Wirkung vom 1. Januar 1957 in Anwendung des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes in eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit umgestellt wurde. Diese Rente bezog er bis zu seinem Tode.
Mit den Bescheiden vom 29. September 1969 und 14. September 1970 stellte die Beklagte die Witwenrente der Klägerin nach § 1268 Abs. 1 RVO fest. Bei der Berechnung dieser Rente blieb die Rentenbezugszeit des Versicherten unberücksichtigt.
Die auf Berücksichtigung der Rentenbezugszeit gerichtete Klage hatte in den Tatsacheninstanzen keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts vom 29. Juni 1970, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - vom 11. August 1971). Das LSG hat entschieden, daß die vor Vollendung des 55. Lebensjahres des Versicherten liegende Rentenbezugszeit bei dem gegebenen Sachverhalt weder als Ausfallzeit noch als Zurechnungszeit angerechnet werden könne. Um eine Ausfallzeit nach § 1259 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 RVO könnte es sich nur dann handeln, wenn die vor Vollendung des 55. Lebensjahres bezogene Rente des Versicherten weggefallen sei und später aufgrund eines neuen Versicherungsfalles erneut eine Rente bewilligt worden wäre. Diese Voraussetzung sei nicht erfüllt, wenn - wie hier - der Versicherte die Rente bis zu seinem Tode ohne Unterbrechung bezogen habe und die Witwenrente sich unmittelbar an die Versichertenrente anschließe. - Die Berücksichtigung einer Zurechnungszeit, die hiernach in Betracht komme (vgl. § 1260 RVO), verbiete § 1268 Abs. 1 RVO.
Mit der Revision rügt die Klägerin, das LSG habe § 1259 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 RVO fehlerhaft ausgelegt. Ihr Anspruch sei bei einer wortgetreuen Auslegung des Gesetzes begründet. Mit dem Tod des Versicherten entfalle dessen Rente, der von § 1259 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 RVO geforderte Wegfall der Rente liege also vor.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile und ihrer dem Verfahren zugrunde liegenden Bescheide zu verurteilen, bei der Berechnung der Hinterbliebenenrente eine Ausfallzeit von Dezember 1954 bis Juli 1969 zu berücksichtigen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision der Klägerin ist unbegründet.
Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, daß die vor Vollendung des 55. Lebensjahres ihres verstorbenen Ehemannes liegende Rentenbezugszeit - die Zeit von Dezember 1954 bis Juli 1969 - bei der Festsetzung ihrer Witwenrente nach § 1268 Abs. 1 RVO als Ausfallzeit berücksichtigt wird. In Anwendung des § 1268 Abs. 3 RVO in Verbindung mit § 1254 Abs. 2 Satz 2, § 1253 Abs. 2 Sätze 3 - 5 und § 1260 RVO gilt eine solche Zeit als Zurechnungszeit. Zurechnungszeiten bleiben jedoch bei der Berechnung der sogenannten kleinen Witwenrente nach § 1268 Abs. 1 RVO außer Betracht. Die Entscheidung hängt daher, wie auch die Vorinstanzen erkannt haben, davon ab, ob die vorbezeichnete Zeit in Anwendung des § 1259 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 RVO als Ausfallzeit zu werten ist. Ausfallzeiten sind nach dieser Vorschrift Zeiten des Bezugs einer Rente, die mit einer angerechneten Zurechnungszeit (§ 1260 RVO) zusammenfallen, wenn nach Wegfall der Rente erneut Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit oder wenn Altersruhegeld oder Hinterbliebenenrente zu gewähren ist. Der Klägerin ist zuzugestehen, daß die Auslegung, die sie dem Gesetz gibt, durch dessen Wortlaut nicht von vornherein ausgeschlossen wird. Diese Auslegung ist aber nicht zwingend. Es gibt unterschiedliche Beurteilungen in Rechtsprechung und Schrifttum. In seinem Urteil vom 1. Dezember 1971 (SozR Nr. 21 zu § 1268 RVO) hat sich das BSG bereits mit den Rechtsfragen befaßt, denen für die Entscheidung des vorliegenden Falles Bedeutung zukommt. Dort ist die Auffassung vertreten worden, daß dann, wenn der Versicherte bis zu seinem Tode Rente bezogen habe, die vor der Vollendung des 55. Lebensjahres liegende Rentenbezugszeit in die Berechnung der Witwenrente nach § 1268 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 RVO als Zurechnungszeit ohne festen Wert zu übernehmen sei. Eine Anrechnung dieser Rentenbezugszeit als Ausfallzeit nach § 1259 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 RVO wird ausdrücklich verneint. Diese Vorschrift - so ist dort ausgeführt - finde nur dann Anwendung, wenn eine früher gewährte Rente weggefallen und danach erneut eine Rente zu gewähren sei. Von einem Wegfall könne aber nicht gesprochen werden, wenn zwischen dem Ende der vom Versicherten bezogenen Rente und dem Beginn der Witwenrente kein Zwischenraum liege. Diese Interpretation, die vom Wortlaut des Gesetzes gedeckt wird und dessen Zweck nicht widerstreitet, wird vom erkennenden Senat gebilligt. Er folgt ihr nicht nur für § 1268 Abs. 2 RVO - nur auf diese Vorschrift bezieht sich die Entscheidung unmittelbar - sondern auch bei Anwendung des § 1268 Abs. 1 RVO. In § 1268 RVO sind die hier bedeutsamen Begriffe - "Zurechnungszeit" und "Ausfallzeit" - nicht im einzelnen erläutert. Insoweit ist vielmehr auf andere Vorschriften - §§ 1259, 1260 RVO - zurückzugreifen. Aus diesen ergibt sich ebenfalls nichts, was eine unterschiedliche Auslegung, je nachdem, um welche Witwenrente - § 1268 Abs. 1 oder § 1268 Abs. 2 - es sich handelt, rechtfertigen könnte.
In dem zu entscheidenden Fall hat der Versicherte bis zu seinem Tode Rente bezogen. Die vor Vollendung seines 55. Lebensjahres liegende Rentenbezugszeit kann daher nicht als Ausfallzeit berücksichtigt werden, gleichgültig, ob die Witwenrente nach § 1268 Abs. 1 oder Abs. 2 RVO berechnet wird. Die Rente des Versicherten ist nicht weggefallen im Sinne des § 1259 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 RVO. - Diese Betrachtungsweise - Wertung einer solchen Zeit als Zurechnungszeit, die bei Festsetzung der Witwenrente nach § 1268 Abs. 1 RVO unberücksichtigt zu bleiben hat - trägt dem Willen des Gesetzgebers Rechnung. Die sogenannte kleine Witwenrente orientiert sich - anders als im Rahmen des § 1268 Abs. 2 RVO - lediglich an der Berufsunfähigkeitsrente, überdies haben Zurechnungszeiten außer Betracht zu bleiben. Das Gesetz läßt damit erkennen, daß diese Rente deutlich unter der nach § 1268 Abs. 2 RVO zu berechnenden Hinterbliebenenrente liegen soll. Darauf würde nicht hinreichend Bedacht genommen werden, wenn die vorbezeichnete Zurechnungszeit gleichwohl - wenn auch nach Umdeutung in eine Ausfallzeit - berücksichtigt würde.
Die Revision muß hiernach zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen