Leitsatz (redaktionell)
Für die Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses reicht es nicht aus, daß das Pflegekind nur "Kostgänger" ist, sondern es muß wie "zur Familie gehörig" angesehen und behandelt werden.
Normenkette
BKGG § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 6 Fassung: 1964-04-14
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 31. Oktober 1972 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger ist Witwer und italienischer Staatsangehörigkeit. Er hat ein eigenes eheliches Kind (G J). Der Kläger wohnt und arbeitet in der Bundesrepublik. Am 23. Dezember 1969 beantragte er Kindergeld für die in L F in Sizilien lebenden - in den Jahren 1957 bis 1969 geborenen - fünf Kindern seiner seit dem 12. August 1968 verwitweten Schwester. Mit Bescheid vom 3. März 1970 wies das Arbeitsamt den Antrag ab, weil die Kinder nicht in den Haushalt des Klägers aufgenommen und daher nicht Pflegekinder i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 6 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) seien.
Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Zwischen dem Kläger und seinen Nichten und Neffen in Italien bestehe kein familienähnliches Band i. S. des § 2 Abs. 1 Nr. 6 BKGG. Voraussetzung für ein solches sei, daß der Pflegevater zum Pflegekind ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis wie zu einem eigenen Kind habe. Dies sei jedoch nicht der Fall. Mit Besuchen in halbjährlichem Abstand könne er die vorgenannten Aufgaben nicht wahrnehmen. Zur Erfüllung der Pflichten gehöre grundsätzlich das tägliche Zusammenleben mit den Kindern. Im übrigen seien die Kinder auch nicht in den Haushalt des Klägers aufgenommen worden, möge er diesen auch in vollem Umfang finanzieren.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger die zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung vorgetragen, der Begriff der Aufnahme in den Haushalt sei nicht eng auszulegen, er sei auch dann noch zu bejahen, wenn der Pflegevater fortgesetzt als Reisender unterwegs, auf Montage im Ausland oder als Straffälliger in Strafhaft sei oder wenn ein Deutscher, der in der Bundesrepublik einen eigenen Haushalt führe, seine verwitwete Schwester mit deren Kindern bei sich aufnehme, dann auf Montage nach Indien, Afrika oder Südamerika gehe und alle halbe Jahr die Möglichkeit habe, für drei oder vier Wochen zu Hause nach dem Rechten zu sehen. Bei ihm müsse man zusätzlich den ausgeprägten Familiensinn der Italiener berücksichtigen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 31. Oktober 1972, des Urteils des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. April 1971 sowie des Bescheides der Beklagten vom 3. März 1970 idF des Widerspruchsbescheides vom 13. April 1970 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Kindergeld unter Berücksichtigung der Kinder Gaspare J. sowie Francesca, Francesco, Gaspare, Armando und Vincenza S. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist ergänzend darauf hin, das von der Revision herangezogene Beispiel verkenne, daß nach § 6 Abs. 1 BKGG ein Anspruch für den im Ausland arbeitenden Bruder weiter voraussetze, daß seine dortige Beschäftigung unter das "Ausstrahlungsprinzip" falle.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagte nach § 2 Abs. 1 Nr. 6 des BKGG idF vom 14. April 1964 (BGBl I, 265) keinen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld unter Berücksichtigung der im Antrag vom 23. Dezember 1969 genannten Kinder. Bei ihnen handelt es sich nicht um Pflegekinder des Klägers. Nach der gesetzlichen Definition in der genannten Vorschrift sind das Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinem Haushalt aufgenommen hat und zu den Kosten ihres Unterhalts nicht unerheblich beiträgt. Ob die letztere Voraussetzung erfüllt ist (diese ist mit der Neufassung des Gesetzes mit Wirkung vom 1. September 1970 ohnehin weggefallen - vgl. das 2. ÄndG zum BKGG vom 16. Dezember 1970 - BGBl I, 1725 - Art. 1 Nr. 1) kann hier dahinstehen, da es schon an einem Pflegekindschaftsverhältnis fehlt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts reicht es für die Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses nicht aus, daß das Pflegekind nur "Kostgänger" ist, sondern es muß wie "zur Familie zugehörig" angesehen und behandelt werden. Dazu gehört, daß in tatsächlicher Hinsicht zwischen dem Pflegeelternteil und dem Kind bzw. den Kindern ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis besteht (siehe BSG 13, 265, 267, 268; 15, 239, 242; 17, 265, 267; 19, 106, 107; 20, 26, 27; ferner Wickenhagen/Krebs, BKGG, Stand September 1971, Anm. 10 zu § 2 S. IV/42, 43; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand November 1974, Anm. 31 zu § 583 RVO sowie Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand August 1974, S. 690 q II mit zahlreichen weiteren Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur). Dieser einhelligen Auffassung stimmt auch der erkennende Senat zu. Die Voraussetzungen eines Pflegekindschaftsverhältnisses liegen mithin grundsätzlich nicht vor, wenn die Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsfunktionen von einer als Pflegeelternteil auftretenden Person - wenn überhaupt - nur gelegentlich und in ungewöhnlich langen Abständen wahrgenommen werden können. Das Pflegekindschaftsverhältnis beruht nicht auf einem Rechtsverhältnis, sondern ist vielmehr aus den tatsächlichen Gesamtumständen abzuleiten Nach den mit der Revision nicht angefochtenen tatsächlichen Feststellungen des LSG, die für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), beschränkt sich der Kläger als angeblicher Pflegeelternteil aber nur auf kurzfristige, in halbjährlichen Abständen erfolgende Besuche. Während der ganzen übrigen Zeit werden die Kinder seiner Schwester auch nach dem Umzug in das Haus des Klägers von der eigenen Mutter beaufsichtigt, erzogen und betreut.
Der in der Revisionsbegründung angestellte Vergleich mit dem hypothetischen Fall eines Deutschen, der sich auf Montage im Ausland aufhält, geht schon deshalb fehl, weil der Kläger nicht in Deutschland "seine verwitwete Schwester mit deren Kindern bei sich" aufgenommen hat. Für den Kläger ergäbe sich dann eine vergleichbare Lage, wenn die Schwester und ihre Kinder vom Kläger in Deutschland betreut würden und er von hier aus längere Zeit im Ausland tätig sein müßte, etwa weil er von seinem im Geltungsbereich dieses Gesetzes ansässigen Arbeitgeber zur vorübergehenden Dienstleistung in ein Gebiet außerhalb dieses Geltungsbereiches entsandt, abgeordnet, versetzt oder kommandiert ist (vgl. § 1 BKGG in der ab 1. Januar 1975 geltenden Neufassung - BGBl 1975 I, 412 ff.). Für die Zeit davor hat die Beklagte zutreffend darauf hingewiesen, daß neben den sonstigen Voraussetzungen noch weiter erforderlich war, daß die Beschäftigung im Ausland nicht überwiegend erfolgte, d. h. daß sie als vorübergehende Tätigkeit unter das "Ausstrahlungsprinzip" fallen würde (vgl. § 6 Abs. 1 BKGG, der bis zum 31. Dezember 1974 gegolten hat, sowie Sixtus-Haep, Die Kindergeldgesetze und ihre Anwendung, 4. Aufl., Stand 1. Mai 1973, Anm. 2 zu § 6 BKGG).
Soweit die Revision noch darauf hinweist, daß ein Pflegekindschaftsverhältnis auch dann bestehe, wenn der Pflegevater fortgesetzt als Reisender unterwegs sei, ist zu bemerken, daß in diesem Fall der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bei seiner Familie und seinen Kindern verbleibt.
Nach alledem konnte die Revision des Klägers keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen