Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. September 1980 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 15. August 1979 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt für seinen Neffen Kindergeld als Pflegevater.
Der 1947 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er lebt und arbeitet seit 1973 in der Bundesrepublik Deutschland. Im September 1977 kam seine Ehefrau mit zwei 1971 und 1972 geborenen ehelichen Kindern ebenfalls in die Bundesrepublik Deutschland. Im Juni 1978 wurde hier ein weiteres eheliches Kind geboren.
Der am 2. Februar 1958 geborene Vetter des Klägers (Sohn seines Bruders) M…Y… (M.…Y.…) hatte in der Türkei ein Gewerbegymnasium besucht. Da sein Vater ihm ein weiteres Studium nicht finanzieren konnte und der Kläger bereit war, seine weitere Berufsausbildung zu ermöglichen, kam M.…Y.… ebenfalls im September 1977 in die Bundesrepublik Deutschland. Er wohnte zunächst 1 1/2 Monate bei dem Kläger. Er besuchte sodann Sprachenschulen in Duisburg und Dortmund. Seit Juni 1978 wohnt er wieder bei dem Kläger und besucht eine Fachoberschule in Wanne-Eickel. Der Kläger hat gegenüber dem türkischen Konsulat in Essen eine Garantieerklärung wegen der Studienkosten seines Vetters abgegeben. Der Kläger trägt die Kosten für den Lebensunterhalt des M.…Y.… und zahlt das Schulgeld.
Am 13. November 1978 beantragte der Kläger, ihm Kindergeld für M.…Y.… zu gewähren. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 6. Februar 1979 ab, weil M.…Y.… nicht Pflegekind iS des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 6 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) sei. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26. Februar 1979 zurück. Das Sozialgericht Gelsenkirchen (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. August 1979). Das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Kindergeld für M.…Y.… ab 1. November 1978 zu gewähren; es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 15. September 1980).
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 6 BKGG.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. September 1980 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 15. August 1979 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil des LSG ist aufzuheben. Die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des SG ist zurückzuweisen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Kindergeld für seinen Vetter M.…Y.… Dieser ist nicht sein Pflegekind.
Nach § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 6 BKGG werden als Kinder iS des BKGG ua Pflegekinder berücksichtigt. Das sind nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinen Haushalt aufgenommen hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) reicht es für die Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses nicht aus, daß das Pflegekind nur “Kostgänger” ist, sondern es muß wie “zur Familie zugehörig” angesehen und behandelt werden. Dazu gehört, daß in tatsächlicher Hinsicht zwischen dem Pflegeelternteil und dem Kind ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis besteht wie zwischen Eltern- und leiblichen Kindern. Eine familienhafte Bindung aus einem anderen Verwandtschaftsverhältnis genügt nicht. Zwischen Pflegeeltern und Pflegekind muß eine ideelle Dauerbindung bestehen, so wie das zwischen leiblichen Eltern und Kindern der Fall ist. Pflegeeltern müssen die Befugnis und die Verpflichtung zur Aufsicht und Erziehung haben (BSGE 15, 239, 242; 17, 265, 19, 106, 107, 20, 91 sowie Urteil vom 24. April 1975 – 8/7 RKg 4/73, Praxis 1976, 47 = 2 f SH 1976, 327 jeweils mit zahlreichen weiteren Hinweisen auf Rechtsprechung und Schrifttum). Zwar ist es zur “Aufnahme in den Haushalt” erforderlich, daß der Aufnehmende (Stief- oder Pflegevater) in irgendeiner Form zum Unterhalt des Kindes beiträgt (BSGE 29, 292, 293). Andererseits genügt es aber nicht zur Herstellung eines familienähnlichen Bandes, daß der Aufnehmende die Kosten des gesamten Unterhalts des Kindes trägt (BSGE 15, 239, 242; 17, 265, 267). Entscheidend ist die familienähnliche Dauerbindung wie zwischen Eltern und Kindern. Dazu gehört, daß zwischen Pflegeeltern und Pflegekind ein Altersunterschied wie zwischen Eltern und Kindern besteht, aus dem sich ein natürliches Aufsichts-, Erziehungs- und Betreuungsverhältnis ergibt. Das BSG hat das sowohl bei Geschwistern verneint, bei denen nur ein geringer Altersunterschied bestand (BSGE 15, 242), als auch bei einer minderjährigen Schwiegertochter (BSGE 17, 265). Ein Pflegekindschaftsverhältnis mag auch zu volljährigen Kindern bestehen können. Das setzt in der Regel jedoch voraus, daß das Pflegeverhältnis zu einer Zeit begründet worden ist, zu der das Kind der Aufsicht, Erziehung und Betreuung bedarf, also in einem früheren Kindesalter. Ob ein Pflegekindschaftsverhältnis zu einem volljährigen Kind begründet werden kann, ist deshalb zweifelhaft, braucht hier aber nicht entschieden zu werden, obwohl M.…Y.…, als der Kläger ihn in seinen Haushalt aufnahm (Juni 1978), bereits sein 20. Lebensjahr vollendet hatte. Jedenfalls fehlt es an der ideellen Dauerbindung wie zwischen leiblichen Eltern und Kindern. Das natürliche Eltern-Kind-Verhältnis bestand zwischen M.…Y.… und seinen in der Türkei verbliebenen Eltern fort. Der Kläger sollte ihm nicht auf Dauer den Vater ersetzen. Der Kläger hat zwar, wie das LSG zutreffend festgestellt hat, für M.…Y.… mehr getan als das nach ihrem Verwandtschaftsverhältnis als Vettern jedenfalls unter mitteleuropäischen Verhältnissen zu erwarten war. M.…Y.… hat sich auch, soweit es in seinem Alter nötig und möglich war, der Aufsicht und Betreuung des Klägers unterstellt und sich wohl auch wie ein erwachsenes Kind in dessen Familie und Haushalt eingegliedert. Dieses möglicherweise familienähnliche Band war aber nicht im Sinne einer ideellen Dauerbindung “auf längere Zeit” vorgesehen. M.…Y.… sollte vielmehr nur für die Dauer seiner Berufsausbildung “wie ein Kind” im Haus des Klägers leben und dann wieder in die Türkei zurückkehren. Nur in dieser von vornherein begrenzten Zeit sollte der Kläger an ihm Vaterstelle vertreten. Die Bindungen zwischen natürlichen Eltern und Kindern lockern sich zwar auch mit fortschreitendem Lebensalter und zunehmender Selbständigkeit der Kinder. Die ideelle Dauerbindung bleibt aber bestehen. Ein Kind bleibt immer das Kind seiner Eltern. Ein zeitlich begrentzes Kindschaftsverhältnis gibt es nicht. Mag auch bei Pflegekindern die Bindung an die Pflegeeltern wegen der fehlenden unmittelbaren Blutsverwandtschaft nicht so eng sein wie zwischen natürlichen Eltern und Kindern und mag ein solches Pflegekindschaftsverhältnis auch eines Tages praktisch enden, so ist doch jedenfalls eine Bindung, die erst im höheren Alter des Kindes begründet worden ist und deren Ende an bestimmte äußere Umstände geknüpft sein soll, wie hier der Abschluß der Berufsausbildung, nach deren Eintritt der frühere Zustand wieder hergestellt wird, keine dem Verhältnis zwischen natürlichen Eltern und Kindern vergleichbare ideelle Dauerbindung.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 893538 |
Breith. 1983, 79 |