Leitsatz (amtlich)
Eine schuldhaft falsche Adressierung der Rechtsmittelschrift ist dann nicht ursächlich für die Versäumung der Rechtsmittelfrist, wenn die rechtzeitige Weiterleitung der Rechtsmittelschrift durch das schuldhafte Verhalten eines Dritten (Verwaltungsbehörde oder Gericht) versäumt worden ist und der Rechtsmittelkläger mit einer derartigen Verzögerung nicht zu rechnen brauchte. In Fällen dieser Art ist daher Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Leitsatz (redaktionell)
Verhalten des Prozeßgegners
Auf die Anfrage des 12. Senats vom 1973-03-15 hat der Senat beschlossen, an der Rechtsauffassung festzuhalten, die er in seinem Urteil vom 1971-09-22 10 RV 210/71 = VersorgB 1972, 23 zur Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vertreten hat.
Der Senat hat sich dabei von dem Wortlaut und dem Sinn und Zweck des SGG § 67 Abs 1 leiten lassen, der eindeutig dahin geht, daß niemand aus formellen Gründen Rechtsnachteile erleiden soll, wenn diese Gründe durch das schuldhafte Verhalten eines Dritten gesetzt worden sind. Der Senat hat weiter erwogen, daß in Fällen der vorliegenden Art die Fristversäumnis gerade dem Prozeßgegner zugute kommen würde, der diese Fristversäumnis durch sein eigenes schuldhaftes Verhalten wesentlich verursacht hat. Der Senat weiß sich in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BGH.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 233 Abs. 1 a.F.
Tenor
Der 10. Senat hält an der Rechtsauffassung fest, die er in seinem Urteil vom 22. September 1971 - 10 RV 210/71 - zur Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vertreten hat.
Gründe
Der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat durch Beschluß vom 15. März 1973 bei dem 10. Senat angefragt, ob dieser an der im Urteil vom 22. September 1971 niedergelegten Rechtsauffassung zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) festhalten will. Eine gleichlautende Anfrage ist an den 2. Senat zu dessen Urteil vom 28. August 1968 - 2 RU 268/66 - gerichtet worden. Der 11. Senat hat über eine entsprechende Anfrage bereits durch Beschluß vom 8. März 1973 entschieden.
Da der erkennende Senat das Urteil vom 22. September 1971 in der vollen Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei Bundessozialrichtern gefällt hat (vgl. § 40 i. V. m. § 33 SGG), hat er über die Anfrage des 12. Senats in gleicher Besetzung entschieden (vgl. BSG 34, 1 ff.).
Im Urteil vom 22. September 1971 hat der 10. Senat entschieden, daß der Klägerin die von ihr beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht versagt worden war: Die Klägerin treffe zwar ein Verschulden, weil sie ihre Berufungsschrift entgegen der Rechtsmittelbelehrung in dem Urteil des Sozialgerichts (SG) nicht an das Landessozialgericht (LSG), sondern an das Landesversorgungsamt gerichtet habe. Die falsche Adressierung sei aber für den verspäteten Eingang der Berufungsschrift beim LSG von wesentlich geringerer Bedeutung und Tragweite als das schuldhafte Verhalten des Landesversorgungsamtes (und Prozeßgegners). Dieses habe die ihm gegenüber der Klägerin als Versorgungsberechtigten obliegende Fürsorge- und Betreuungspflicht dadurch gröblich verletzt, daß es das eindeutig als Berufung erkennbare Schreiben der Klägerin nicht unverzüglich oder "wenigstens im Rahmen eines normalen Weiterleitungsverfahrens", sondern erst nach 17 Tagen an das LSG gesandt habe. Der verspätete Eingang der Berufungsschrift beim LSG habe danach ganz überwiegend auf Umständen beruht, die nicht mehr im Einflußbereich der Klägerin gelegen hätten und mit denen sie auch nicht habe zu rechnen brauchen.
Der erkennende Senat war also - insoweit in Übereinstimmung mit dem 2. Senat (Urteil vom 28. August 1968 - 2 RU 268/66) und einer späteren Entscheidung des 11. Senats (Urteil vom 21. Oktober 1971 - 11 RA 106/71) - im Ergebnis der Auffassung, daß ein einmal gesetztes Verschulden des Rechtsmittelklägers durch ein schuldhaftes, vorwerfbares Verhalten eines Dritten - hier der Versorgungsverwaltung - so weit in den Hintergrund treten kann, daß es für die Fristversäumung nicht mehr ursächlich ist. Der Senat hat sich dabei von der Erwägung leiten lassen, daß schon der Wortlaut der Vorschrift des § 67 Abs. 1 SGG nicht ganz eindeutig ist und deshalb der Auslegung bedarf. Das Gesetz fordert nämlich nicht, daß jemand bei der Fristversäumung "ohne Verschulden" gewesen sein muß, sondern das Gesetz schreibt lediglich vor, daß Wiedereinsetzung dann zu gewähren ist, wenn jemand ohne Verschulden "verhindert" war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Die Verhinderung an der Einhaltung der Verfahrensfrist muß also "ohne Verschulden" sein. Das aber ist nicht nur dann der Fall, wenn ein Verschulden des Rechtsmittelklägers gar nicht vorlag (z. B. infolge Krankheit), sondern auch dann, wenn ein Verschulden des Rechtsmittelklägers zwar vorlag, dieses aber für die Verhinderung nicht ursächlich gewesen ist.
Die Auslegung des § 67 Abs. 1 SGG hat sich an dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift auszurichten. Dieser aber geht eindeutig dahin, daß niemand aus formellen Gründen Rechtsnachteile erleiden soll, wenn diese Gründe nicht durch ihn, sondern durch ein nicht zurechenbares schuldhaftes Verhalten eines Dritten gesetzt worden sind. Es entspricht auch allgemeiner Rechtsüberzeugung, daß die persönlichen Verhältnisse und Anschauungen dessen, der die Frist versäumt hat, berücksichtigt werden müssen (vgl. BSG in SozR SGG § 67 Nr. 2). Das BSG hat wiederholt entschieden, daß an die Sorgfaltspflichten eines Prozeßbevollmächtigten bei der Wahrung von Rechtsmittelfristen im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit keine geringeren Anforderungen zu stellen sind als in den Verfahren der übrigen Gerichtszweige (vgl. BSG in SozR SGG § 67 Nr. 23). Daraus ergibt sich gleichzeitig, daß auf die Belange des rechtsunkundigen, nicht vertretenen Klägers Rücksicht genommen werden muß; die Anforderungen an ihn dürfen nicht überspannt werden (vgl. BSG in SozR SGG § 67 Nr. 9). Nach Ansicht des Senats darf auch nicht übersehen werden, daß - in Fällen der vom Senat am 22. September 1971 entschiedenen Art - die Fristversäumnis gerade dem Prozeßgegner zugute kommen würde, der diese Versäumnis durch sein eigenes schuldhaftes Handeln - vielleicht sogar absichtlich - verursacht hat.
Der Senat weiß sich insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - BGH - (vgl. Lindenmaier/Möhring, Nachschlagewerk des BGH, ZPO, § 233 Nr. 42 und 84) und der überwiegend im Schrifttum vertretenen Auffassung (vgl. Stein/Jonas, ZPO, 19. Aufl. 1972, § 233 Anm. II 1 b; Baumbach, ZPO, 27. Aufl., § 233 Anm. 2 C; Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 67 Anm. 7 a S. 214 oben). Die genannten Kommentatoren sprechen übereinstimmend davon, daß zwischen dem unabwendbaren Ereignis (vgl. § 233 ZPO) bzw. dem Verschulden (vgl. § 67 SGG) und der Versäumung der Prozeßhandlung ein ursächlicher Zusammenhang bestehen muß. Dabei kann dahinstehen, ob die Ursächlichkeit nach der Adäquanztheorie oder der im gesamten Bereich der Sozialgerichtsbarkeit herrschenden Theorie der wesentlichen Mitbedingung zu beurteilen ist (vgl. BSG 1, 150, 156 und insbesondere 1, 268). Jedenfalls spricht nichts dafür, daß hier gerade die Bedingungstheorie (conditio sine qua non) anzuwenden ist und daß ein einmal gesetztes Verschulden des Rechtsmittelklägers auch dann ursächlich bleibt, wenn ein schuldhaftes Verhalten von dritter Seite, auf das der Rechtsmittelkläger keinen Einfluß hatte und mit dem er aufgrund der besonderen Sachkunde oder einer besonderen Fürsorge- und Betreuungspflicht des Dritten nicht zu rechnen brauchte (vgl. Urteil vom 22. September 1971 aaO), die Fristwahrung vereitelt hat. Die Anwendung der reinen Bedingungstheorie erscheint hier um so weniger gerechtfertigt, als auch auf dem Gebiet des Strafprozesses die Auffassung herrschend ist, daß in dem amtlichen Verschulden einer Behörde oder eines Beamten, durch das die Fristwahrung vereitelt wird, ein für den Antragsteller unabwendbarer Zufall zu sehen ist, der die Wiedereinsetzung rechtfertigt (vgl. RGSt 70, 188) bzw. daß es ein Wiedereinsetzungsgrund sein kann, wenn das an die unzuständige Behörde gerichtete Schriftstück nicht oder grundlos verspätet an das zuständige Gericht weitergeleitet wird (vgl. Müller/Sax, Kommentar zur StPO § 44 Anm. 3 b; Löwe/Rosenberg, StPO § 44 Anm. II 5). Gleichermaßen hat der BGH wiederholt entschieden, daß Wiedereinsetzung dann zu gewähren ist, wenn zwar eine schuldhafte Säumnis des Rechtsmittelklägers vorliegt, wenn aber beim normalen Verlauf der Dinge deren Folgen durch ein von anderer Seite zu erwartendes pflichtmäßiges Verhalten ausgeschaltet worden wären (vgl. Lindenmaier/Möhring aaO ZPO § 233 Nr. 42). In Fällen dieser Art ist dann nicht mehr das Verschulden der Partei oder ihres Vertreters als ursächlich für die Versäumung der Frist anzusehen, sondern das spätere, von der Partei nicht verschuldete Ereignis, das sich der Fristwahrung entgegengestellt hat (vgl. Lindenmaier/Möhring aaO ZPO § 233 Nr. 84; BAG in AP, Nr. 59 zu § 233 ZPO).
Demgegenüber vertritt der anfragende (12.) Senat - allerdings ohne nähere Begründung - die Auffassung, daß das Verschulden des Berufungsklägers (Antragstellers) an der Nichteinhaltung der Rechtsmittelfrist durch ein zusätzliches, späteres Verhalten eines Bediensteten des SG, sei es schuldhaft oder nicht, nicht mehr beseitigt werden kann. Der 12. Senat beruft sich dabei u. a. auf eine Entscheidung des 1. Senats des BSG vom 28. Januar 1956 (SozR SGG § 151 Nr. 3). Nach Ansicht des erkennenden Senats gibt diese Entscheidung jedoch nichts Wesentliches für den einen oder anderen Rechtsstandpunkt her. Der 1. Senat hat in dieser Entscheidung (Zustellung des SG-Urteils am 12. Juli 1954; Berufungsschrift vom 10. August 1954 an das SG in N. gerichtet, beim LSG in M. erst am 13. Oktober 1954 eingegangen) lediglich ausgesprochen, daß das SG "nicht verpflichtet ist, jede Postsache unmittelbar nach Eingang daraufhin zu überprüfen, ob seine Zuständigkeit gegeben ist oder ob die Sache an eine andere zuständige Stelle weiterzuleiten ist". Diese Auffassung hat sich der erkennende (10.) Senat zu eigen gemacht und am 12. Februar 1964 (10/11 RV 1216/61) entschieden, daß das SG weder verpflichtet ist, jede Postsache unmittelbar nach Eingang auf seine Zuständigkeit hin zu überprüfen noch verpflichtet ist, "gegebenenfalls außerordentliche Maßnahmen zu treffen, um dadurch prozessuale Nachteile von dem Einsender abzuwenden" (vgl. auch BAG in AP, Nr. 60 zu § 233 ZPO; LSG Rheinland-Pfalz in Breithaupt 1973, S. 243). Bereits in dieser Entscheidung deutet sich also die in der Entscheidung des Senats vom 22. September 1971 deutlich ausgesprochene Auffassung an, daß unterschieden werden muß zwischen einer unmittelbar nach Eingang anzustellenden Prüfung und Weitergabe der Sache an die zuständige Stelle bzw. "außerordentlichen Maßnahmen" einerseits - zu denen das SG nicht verpflichtet ist - und einer schuldhaften Verzögerung der Weitergabe durch den Versorgungsträger - bzw. das Gericht erster Instanz - andererseits.
Der Leitsatz der vom 12. Senat zitierten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG 6, 161) scheint zwar gegen diese Auffassung zu sprechen. Eine genaue Durchsicht dieser Entscheidung zeigt jedoch, daß sie einen ganz anders gelagerten Fall betraf. Dagegen bezieht sich die Entscheidung des BVerwG vom 12. Juli 1972 (III C 5/72 in RJ 1973 Heft 3, S. 76) auf einen Fall, der in etwa den oben zitierten Entscheidungen des 1. Senats des BSG vom 28. Januar 1956 und des 10. Senats vom 12. Februar 1964 gleichgelagert ist. (Die Revisionsschrift ging bei dem - für die Revisionseinlegung unzuständigen (§ 139 Abs. 1 Satz 1 VerwGO) - Bundesverwaltungsgericht erst am letzten Tag der Revisionsfrist ein.) Das BVerwG hat dabei ausgesprochen, ein Rechtsanwalt könne nicht damit rechnen, das BVerwG werde ihn so rechtzeitig, d. h. notfalls telefonisch oder telegraphisch, auf den Mangel der Revisionseinlegung hinweisen, daß es ihm ermöglicht werde, die Revision noch fristgemäß bei dem zuständigen Verwaltungsgericht (VG) einzulegen; er könne ebensowenig damit rechnen, daß die Revisionsschrift telefonisch oder telegraphisch an das VG weitergeleitet werde; "denn der Umfang der prozessualen Fürsorgepflicht geht nicht so weit". Das BVerwG hat also nicht etwa jeden Einfluß der prozessualen Fürsorgepflicht auf eine fehlerhafte Rechtsmitteleinlegung verneint, sondern hat lediglich ausgesprochen, daß die Fürsorgepflicht nicht "so weit geht", daß das Gericht den Rechtsanwalt telefonisch oder telegraphisch benachrichtigen bzw. die Rechtsmittelschrift telefonisch oder telegraphisch weiterleiten muß. Das BVerwG befindet sich insoweit in Übereinstimmung mit der Auffassung des erkennenden Senats aus der Entscheidung vom 12. Februar 1964 und der auch jetzt von ihm vertretenen Auffassung.
Wann und wo die Grenze im Einzelfall zu ziehen ist, braucht hier nicht entschieden zu werden. Der vom erkennenden Senat am 8. November 1971 entschiedene Fall war jedenfalls eindeutig so gelagert, daß die von der Klägerin zu vertretende falsche Adressierung der Rechtsmittelschrift von wesentlich geringerer Bedeutung und Tragweite war als die unangemessene Verzögerung in der Weitergabe der Berufung durch das Landesversorgungsamt.
Fundstellen