Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufung. Berufungsausschluß. Unfallrente. Feststellung
Orientierungssatz
Streiten Verfahrensbeteiligte allein über die Frage, ob die Beklagte an "Bescheide" der vor dem Inkrafttreten des SVFAG zuständig gewesenen Versicherungsträger gebunden war und deshalb die Rente nur unter den Voraussetzungen des § 608 RVO aF herabsetzen durfte, oder ob eine solche Bindungswirkung früherer Rentenfeststellungen nicht bestand, so ist § 150 Nr 3 SGG nicht anwendbar, denn ein Streit über die Rechtsverbindlichkeit früherer Entscheidungen über den ursächlichen Zusammenhang umfaßt nicht zugleich den ursächlichen Zusammenhang als solchen (vgl BSG 1958-05-14 8 RV 407/54 = SozR Nr 100 zu § 162 SGG).
Normenkette
SVFAG; RVO § 608 Fassung: 1924-12-15; SGG § 150 Nr. 3
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 13.06.1956) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 12. Oktober 1960 wird zu I seines Ausspruchs dahin geändert, daß die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 13. Juni 1956 als unzulässig verworfen wird.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der in Z. (Mähren) bis zu seiner Ausweisung wohnhaft gewesene Kläger erlitt dort als Postwerkstättenarbeiter am 26. Januar 1940 einen Arbeitsunfall, als er mit dem Aufheben eines Motors beschäftigt war; infolge einer hierbei ausgelösten Rückenmarksblutung entwickelten sich seit Juli 1941 Lähmungserscheinungen. Das Amt für Unfallversicherung (UV) der Deutschen Reichspost in D. gewährte dem Kläger deswegen mit Bescheid vom 23. Juni 1943 als Dauerrente die Vollrente. Nachdem der Kläger in Bayern ansässig geworden war, übernahm die Oberpostdirektion München (OPD) als Ausführungsbehörde für UV der Deutschen Post in Bayern die Rentenzahlung. Ende 1948 ging die Bearbeitung der Sache auf die Staatliche Ausführungsbehörde für UV ( StAfU ) in München über.
Im März 1954 gab die StAfU gemäß § 7 des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes vom 7. August 1953 (FAG) die Akten an die Beklagte ab. Diese ließ den Kläger im Oktober 1954 durch die Universitätsnervenklinik M. begutachten; dieses Gutachten kam zu dem Ergebnis, die beim Kläger bestehenden Beschwerden seien überwiegend auf eine durch den Unfall verschlimmerte Enzephalomyelitis disseminata zu beziehen; von der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von insgesamt 100 v. H. sei der unfallbedingte Anteil auf 50 v. H. anzusetzen. Die Beklagte erteilte hierauf dem Kläger den Bescheid vom 13. April 1955; darin wurde auf Grund des FAG eine Dauerrente von 50 v. H. festgesetzt. Als Unfallfolge wurde bezeichnet: "Durch Unfall begünstigt aufgetretene inkomplette Querschnittslähmung des Rückenmarks bei unfallunabhängiger entzündlicher Hirn-Rückenmarkskrankheit."
Der Kläger hat mit seiner hiergegen erhobenen Klage die Gewährung der Vollrente über den 30. April 1955 hinaus beantragt. Das Sozialgericht (SG) München hat am 13. Juni 1956 die Beklagte verurteilt, dem Kläger über den 30. April 1955 hinaus die Vollrente zu gewähren: Die Beklagte sei auf Grund ihrer Übernahmepflicht gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 1 FAG lediglich als neuer Kostenträger in das bereits bestehende Rechtsverhältnis eingetreten. Sie müsse daher die vom früheren Amt für UV der Deutschen Reichspost im Bescheid vom 23. Juni 1943 anerkannten anspruchsbegründenden Tatsachen gegen sich gelten lassen, die festgestellten Leistungen übernehmen und weitergewähren, solange die Voraussetzungen für eine Neufeststellung der Rente nach § 608 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht eingetreten seien. Eine Besserung des Befundes sei von der Beklagten nicht behauptet worden; das ihrem Bescheid zugrunde liegende Gutachten enthalte lediglich eine andere Beurteilung des Grades der unfallbedingten MdE und erbringe keinen Nachweis für eine wesentliche Änderung der bis zum 30. April 1955 maßgebend gewesenen Verhältnisse. Die den Urteilsgründen angefügte Rechtsmittelbelehrung beginnt mit dem Satz: "Gegen dieses Urteil ist die Berufung zulässig (§ 143 SGG)."
Mit ihrer Berufung hat die Beklagte unrichtige Anwendung von Vorschriften des FAG durch das SG gerügt. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 12. Oktober 1960 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Die Berufung sei ungeachtet des § 145 Nr. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig, weil der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall streitig sei (§ 150 Nr. 3 SGG). Der Kläger fordere die Entschädigung des Rückenmarkleidens als Unfallfolge im Sinne der Entstehung, während der angefochtene Bescheid das Leiden nur im Sinne der Verschlimmerung anerkannt habe; deshalb liege ein Streit über den ursächlichen Zusammenhang im Sinne des § 150 Nr. 3 SGG vor. Die Berufung sei jedoch unbegründet. Zwar treffe die Auffassung des SG, der Bescheid vom 23. Juni 1943 binde die Beklagte, nicht zu, da das FAG selbständige Ansprüche geschaffen habe. Die Mitteilungen der StAfU vom 3. Dezember 1948, 25. April 1952 und 25. Oktober 1952 stellten keine rechtskräftigen Feststellungen im Sinne des § 17 Abs. 6 FAG dar. Dagegen sei die Mitteilung der OPD München vom 22. Januar 1947 als rechtskräftige Feststellung in diesem Sinne zu werten. Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse sei nicht ersichtlich, so daß die Voraussetzungen für die Rentenherabsetzung fehlten. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 28. November 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 21. Dezember 1960 Revision eingelegt und sie zugleich wie folgt begründet: Das LSG habe § 17 Abs. 6 FAG unrichtig angewandt. Die Mitteilung der OPD München vom 22. Januar 1947 komme schon deshalb nicht als Feststellung im Sinne dieser Vorschrift in Betracht, weil hierunter nur Feststellungen aus der Zeit von der Errichtung der Bundesrepublik - 23. Mai 1949 - an zu verstehen seien. Außerdem weise diese Mitteilung nicht die erforderlichen formellen Merkmale - Mitwirkung des Rentenausschusses, Angabe der Unfallfolgen, Rechtsmittelbelehrung - auf. Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Urteile die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
die Revision zurückzuweisen.
Er meint, das Urteil des SG habe den Grad der MdE betroffen, ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Rentengewährung hiervon abgehangen habe; deshalb sei die Berufung durch § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen. Entgegen der Ansicht des LSG sei § 150 Nr. 3 SGG nicht anwendbar; die Frage, ob der ursächliche Zusammenhang zwischen den Beteiligten streitig sei, richte sich nach dem Inhalt des SG-Urteils. Hier sei aber streitig und entscheidungsbedürftig allein die Frage gewesen, ob die Beklagte zur Neufeststellung der Rente auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 608 RVO berechtigt gewesen sei. Über die Zusammenhangsfrage sei weder in erster noch in zweiter Instanz gestritten und entschieden worden.
II
Auf die durch Zulassung nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Revision der Beklagten hat der Senat vorab zu prüfen, ob die unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen für das Klage- und Berufungsverfahren gegeben sind. Diese von Amts wegen anzustellende Prüfung betrifft hier die Zulässigkeit der von der Beklagten eingelegten Berufung (BSG 2, 225; 2, 245, 253). Das LSG hat zu Unrecht diese Berufung als zulässig angesehen und darüber durch ein Sachurteil entschieden; es hat hierbei die Vorschrift des § 150 Nr. 3 SGG unrichtig angewandt.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß die Berufung durch § 145 Nr. 4 SGG aF ausgeschlossen war. Das Urteil des SG betraf den Grad der MdE, welcher der vom Kläger beanspruchten Rente zugrunde zu legen war. Da nun die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid die Rente von 100 auf 50 v. H. herabgesetzt hatte, hing von der Entscheidung über die Höhe der MdE weder die Schwerbeschädigteneigenschaft noch die Gewährung der Rente überhaupt ab. Es kam auch nicht darauf an, ob der angefochtene Bescheid eine Neufeststellung oder die erste Feststellung der Dauerrente betraf; denn § 145 Nr. 4 SGG gilt auch für Gradstreitigkeiten bei der ersten Feststellung der Dauerrente (vgl. SozR SGG § 145 Bl. Da 3 Nr. 4).
Der Auffassung des LSG, die Berufung sei ungeachtet des § 145 Nr. 4 SGG zulässig auf Grund des § 150 Nr. 3 SGG, weil der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall streitig sei, kann der Senat hingegen nicht beipflichten. Allerdings ist § 150 Nr. 3 SGG auch anwendbar, wenn die Beteiligten darüber streiten, ob ein Leiden durch einen Arbeitsunfall entstanden oder nur verschlimmert worden ist (vgl. SozR SGG § 150 Bl. Da 15 Nr. 32). Obwohl nun aber die Beklagte ihren Bescheid vom 13. April 1955 auf die Annahme einer nur verschlimmernden Kausalität des Arbeitsunfalls gestützt hat, ist es zu einem solchen Streit über den ursächlichen Zusammenhang in den Vorinstanzen nicht gekommen. Weder die Gründe des SG-Urteils noch die Ausführungen der Beteiligten in den ersten beiden Rechtszügen setzen sich mit der Frage auseinander, ob das Rückenmarkleiden des Klägers als Unfallfolge im Sinne der Entstehung oder nur im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen ist. Vielmehr war in diesem Verfahrensabschnitt allein die Frage streitig, ob die Beklagte an "Bescheide" der vor dem Inkrafttreten des FAG zuständig gewesenen Versicherungsträger gebunden war und deshalb die Rente nur unter den Voraussetzungen des § 608 RVO aF herabsetzen durfte, oder ob eine solche Bindungswirkung früherer Rentenfeststellungen nicht bestand. In Fällen dieser Art ist § 150 Nr. 3 SGG nicht anwendbar; denn ein Streit um die Rechtsverbindlichkeit früherer Entscheidungen über den ursächlichen Zusammenhang umfaßt nicht zugleich den ursächlichen Zusammenhang als solchen (vgl. SozR SGG § 162 Bl. Da 29 Nr. 100; SozR BVG § 85 Bl. Ca 5 Nr. 7; Hess. LSG, Breith. 1961, 904; Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur SGb, 3. Aufl., Anm. 4 zu § 150). Da somit ein Streit über den ursächlichen Zusammenhang, wie ihn § 150 Nr. 3 SGG voraussetzt, nicht vorgelegen hat, kann die Zulässigkeit der Berufung aus dieser Vorschrift nicht hergeleitet werden.
Auch auf Grund von Nr. 1 und 2 dieser Vorschrift war die Berufung der Beklagten nicht statthaft. Das SG hat sie nicht zugelassen; der einleitende Satz der Rechtsmittelbelehrung, in dem die Berufung als zulässig (§ 143 SGG) bezeichnet wird, stellt keine Entscheidung über die Zulassung gemäß § 150 Nr. 1 SGG dar (vgl. BSG 2, 121; 4, 261). Der Umstand, daß das SG irrtümlich die Berufung als statthaft angesehen und deshalb eine Entscheidung zur Frage ihrer Zulassung nicht getroffen hat, begründet nach der jetzt einhelligen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts auch nicht die Annahme eines wesentlichen Verfahrensmangels im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG (vgl. SozR SGG § 150 Bl. Da 18, 19 Nr. 38, 39, 40). Da die Beklagte im Verfahren vor dem LSG keine Verfahrensrügen erhoben hat, ist die Zulässigkeit der Berufung auch sonst nicht aus § 150 Nr. 2 SGG herzuleiten.
Hiernach hat das LSG zu Unrecht eine Sachentscheidung getroffen. Sein Urteil ist deshalb aufzuheben. Das Vorbringen der Beteiligten zur materiell-rechtlichen Beurteilung der Streitsache bedarf keiner Prüfung. Der Senat muß vielmehr die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG als unzulässig verwerfen. Diese Entscheidung verstößt nicht gegen das Verbot einer Schlechterstellung des Rechtsmittelklägers (vgl. BSG 2, 225, 228, 229).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen