Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistungsausschluß bei vorsätzlicher Tötung des Versicherten
Leitsatz (amtlich)
Der Anspruch auf Hinterbliebenenrente ist nach RVO § 1277 Abs 1 S 2 auch dann ausgeschlossen, wenn die vorsätzliche Herbeiführung des Todes des Versicherten durch die Hinterbliebene bei verminderter Schuldfähigkeit erfolgt ist.
Orientierungssatz
RVO § 1277 Abs 1 S 2 schließt den Anspruch bewußt bei jeder Art des Vorsatzes, also sowohl beim dolus directus als auch beim dolus eventualis und ohne Rücksicht auf den Grad der Schuldfähigkeit aus. Eine am Grundgesetz (Art 3 Abs 1) orientierte Auslegung der Vorschrift führt zu keinem anderen Ergebnis. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder der Sozialstaatlichkeit rechtfertigen es nicht, den § 1277 Abs 1 RVO dahin zu interpretieren, daß je nach dem Grad des Vorsatzes oder der Schuldfähigkeit die Rente nur teilweise oder für eine begrenzte Zeit zu versagen ist.
Normenkette
RVO § 1277 Abs 1 S 2 Fassung: 1957-02-23; GG Art 3 Abs 1 Fassung: 1949-05-23; GG Art 20 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin die Witwenrente aus der Versicherung ihres Ehemannes zusteht.
Der Ehemann der Klägerin ist am 20. Juli 1976 gestorben. Die Klägerin ist wegen Totschlags an ihrem Ehemann rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Bei der Strafzumessung ist berücksichtigt worden, daß die Klägerin die Tat im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit begangen und es sich um einen minderschweren Fall des Totschlags gehandelt habe.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag der Klägerin vom 31. August 1976 mit Bescheid vom 13. Juni 1978 unter Berufung auf § 1277 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab.
Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seines Urteils vom 15. September 1980 im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe den Tod ihres Ehemannes vorsätzlich herbeigeführt. Sie habe sich nicht in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Krankheitszustand befunden. Das ergebe sich insbesondere aus den Feststellungen des rechtskräftigen Schwurgerichtsurteils. Es lägen keine Umstände vor, die zu Bedenken Anlaß gäben und weitere Ermittlungen erforderten. In keinem der im Strafverfahren eingeholten Gutachten, die als Urkundenbeweis verwertet würden, sei die Schuldunfähigkeit der Klägerin angenommen worden. Es habe daher kein Anlaß bestanden, dem hiergegen gerichteten Beweisantrag der Klägerin stattzugeben. Nach § 1277 Abs 1 Satz 2 RVO, der mit dem Grundgesetz (GG) und insbesondere mit dessen Art 3 Abs 1 durchaus zu vereinbaren sei, habe die Klägerin keinen Anspruch auf die Witwenrente. Diese Vorschrift erlaube es nicht, bei dem Ausschluß des Anspruchs nach der Schwere des Verschuldens zu Differenzieren.
Die Klägerin hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie rügt die Beweiswürdigung und macht geltend, das LSG hätte zur Schuldfähigkeit das beantragte Sachverständigengutachten einholen müssen. Im übrigen sei § 1277 Abs 1 Satz 2 RVO verfassungsgemäß dahin auszulegen, daß bei verminderter Schuldfähigkeit nicht ein völliger Ausschluß des Rentenanspruchs, sondern eine zeitlich begrenzte Versagung in Betracht käme. Das gebiete der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und ein Vergleich mit § 1277 Abs 2 RVO, dem ein ähnlicher Rechtsgedanke zugrunde liege.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und nach dem
Klageantrag zu erkennen.
In der ersten Instanz hatte die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom
13. Juni 1978 und des Widerspruchsbescheides vom
17. November 1978 zu verurteilen, an die Klägerin
eine Hinterbliebenenrente - in gesetzlich geschuldeter
Höhe - zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Klägerin sei unbegründet.
Der Senat hat im Termin vom 26. November 1981 beschlossen, den Rechtsstreit gemäß § 126 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nach Aktenlage ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit der Zurückweisung der Berufung zu Recht das die Klage abweisende Urteil des Sozialgerichts (SG) bestätigt. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Witwenrente aus der Versicherung ihres Ehemannes.
Nach § 1277 Abs 1 Satz 2 RVO hat die Witwe keinen Anspruch auf die Hinterbliebenenrente, wenn sie den Tod ihres versicherten Ehemannes vorsätzlich herbeigeführt hat. Nach den Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts, an die der erkennende Senat nach § 163 SGG gebunden ist, trifft das zu. Die Klägerin hat den tödlichen Schuß im Bewußtsein seiner Wirkung abgegeben. Sie war in ihrer Schuldfähigkeit zwar gemindert, ohne sich aber in einem Zustand zu befinden, der die freie Willensbestimmung ausschloß. Diese Tatsachenfeststellungen hat die Klägerin nicht mit begründeten Verfahrensrügen angegriffen. Sie beruhen auf einer eigenen Würdigung der im Strafverfahren erhobenen Beweise durch das LSG. Dabei hat das Berufungsgericht die Grenzen der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht verletzt. Es kommt nicht darauf an, ob diese Beweiswürdigung auch das Revisionsgericht überzeugt und ob eine andere Beweiswürdigung möglich ist, wie sie die Klägerin vornimmt. Entscheidend ist, daß die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts nicht auf einer Verletzung der Beweisregeln und der Denkgesetze beruht. Das LSG hat auch die ihm obliegende Amtsermittlungspflicht nicht dadurch verletzt, daß es dem Beweisantrag der Klägerin nicht entsprochen hat. Das LSG konnte sich darauf beschränken, das schriftliche Gutachten und die Aussage des Sachverständigen in der Hauptverhandlung gegeneinander abzuwägen, so daß es sich nicht gedrängt zu fühlen brauchte, diesen Sachverständigen erneut zur Schuldfähigkeit der Klägerin zu hören.
Wortlaut und Gesetzeszweck lassen für eine Auslegung des § 1277 Abs 1 Satz 2 RVO, wie die Klägerin sie anstrebt, keinen Raum. Die Vorschrift schließt den Anspruch bewußt bei jeder Art des Vorsatzes, also sowohl beim dolus directus als auch beim dolus eventualis und ohne Rücksicht auf den Grad der Schuldfähigkeit aus. Auch eine am Grundgesetz orientierte Auslegung der Vorschrift führt zu keinem anderen Ergebnis. Der von der Klägerin angeführte Gleichheitsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG bietet keinen Ansatzpunkt für eine Korrektur des nach anderen Auslegungsmethoden gefundenen Ergebnisses. Der Hinweis auf die Möglichkeit der nur teilweisen Versagung der Rente in Fällen des § 1277 Abs 2 RVO verkennt, daß dieser Regelung andere Sachverhalte zugrunde liegen, bei denen im Gegensatz zu den Fällen des § 1277 Abs 1 RVO der Versicherungsfall nicht vorsätzlich herbeigeführt worden ist, sondern allenfalls auf Fahrlässigkeit beruhen kann. Der Vorsatz bezieht sich in jener Vorschrift auf die strafbare Handlung, bei deren Begehung der Versicherungsfall eingetreten ist; er ist also nicht mit dem Vorsatz identisch, der auf die Herbeiführung des Versicherungsfalles gerichtet ist. Erstreckt sich der Vorsatz in Fällen des § 1277 Abs 2 RVO auch auf die Herbeiführung des Versicherungsfalles, so treten die Rechtsfolgen des § 1277 Abs 1 RVO ein.
Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder der Sozialstaatlichkeit rechtfertigen es nicht, den § 1277 Abs 1 RVO entgegen dem zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers dahin zu interpretieren, daß je nach dem Grad des Vorsatzes oder der Schuldfähigkeit die Rente nur teilweise oder für eine begrenzte Zeit zu versagen ist. Die vorsätzliche Herbeiführung des Versicherungsfalles und ganz besonders die vorsätzliche Tötung des versicherten Ehegatten ist auch bei einem geringeren Grad des Vorsatzes oder der Schuldfähigkeit ein Tatbestand, der ein Eintreten der Solidargemeinschaft für die Folgen als unzumutbar erscheinen läßt. Auch ohne die ausdrückliche Vorschrift des § 1277 Abs 1 RVO wäre in den dort genannten Fällen daran zu denken, den Anspruch wegen Rechtsmißbrauchs oder Verstoßes gegen den Grundsatz von Treu und Glauben auszuschließen. Dabei stand es dem Gesetzgeber im Rahmen des ihm obliegenden gesetzgeberischen Ermessens frei, den Anspruch in voller Höhe und zeitlich unbegrenzt auszuschließen. Bei der ihm im Rahmen des Sozialstaatsprinzips (Art 20 Abs 1 GG) eingeräumten weitgehenden Gestaltungsfreiheit (vgl BSG in SozR 2200 § 1268 Nr 6 mwN) war er jedenfalls nicht gezwungen, den Ausschluß auf die Zeit bis zum voraussichtlichen Eintritt des Versicherungsfalles ohne die vorsätzliche Handlung zu beschränken. Im Falle des § 1277 Abs 1 Satz 2 RVO kommt hinzu, daß die hypothetische Beurteilung kaum möglich ist, wann der Versicherte ohne die Tötung durch den Ehegatten gestorben wäre und ob der Hinterbliebene den Versicherten überhaupt überlebt hätte.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Klägerin zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen