Leitsatz (redaktionell)
Zu den Voraussetzungen für eine "wirksame Berufungsschrift" gehört, daß aus ihr klar und bestimmt aus Form und Inhalt der Wille zu erkennen sein muß, das Urteil in der nächst höheren Instanz nachprüfen zu lassen.
Normenkette
SGG § 151 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. Dezember 1965 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger verlangt Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung für den Verlust der Sehkraft des rechten Auges, der nach seiner Behauptung als Folge eines Arbeitsunfalls im Jahre 1943 eingetreten ist. Die Beklagte lehnte den Anspruch durch Bescheid vom 20. März 1963 ab.
Die Klage hiergegen ist durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Mannheim vom 7. April 1964 abgewiesen worden. Das SG ist der Ansicht, der Entschädigungsanspruch des Klägers sei mangels genügender Glaubhaftmachung eines Unfallereignisses zu verneinen.
Durch die diesem Urteil angefügte Rechtsmittelbelehrung ist der Kläger vor allem darüber unterrichtet worden, daß die ihm gegen die Entscheidung zustehende Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen sei und daß die Berufungsfrist auch gewahrt werde, wenn die Einlegung der Berufung zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG Mannheim erklärt werde.
Das Urteil des SG ist zur Übersendung an den Kläger am 17. April 1964 durch einen Einschreibebrief bei der Post aufgegeben worden. Der Kläger hat das Urteil am 22. April 1964 mit einem an die 8. Kammer des SG Mannheim, die unter dem Vorsitz von Sozialgerichtsrat von G das Urteil erlassen hat, gerichteten Schreiben beantwortet. Dieses Schreiben ist vom SG an das LSG weitergeleitet worden und am 11. Mai 1964 bei diesem Gericht eingegangen. Am 24. Juni 1964 ist dem Kläger vom Berichterstatter des Berufungsgerichts auferlegt worden mitzuteilen, ob er mit dem Schriftsatz vom 22. April 1964 habe Berufung einlegen wollen. Diese Frage hat der Kläger mit der am 29. Juni 1964 beim LSG eingegangenen schriftlichen Erklärung bejaht. Hiervon hat der Berichterstatter am 6. Juli 1964 die Beklagte unterrichtet, die daraufhin beantragt hat, die Berufung zurückzuweisen.
Das LSG hat durch Urteil vom 15. Dezember 1965 die Berufung als unzulässig verworfen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Das Schreiben des Klägers vom 22. April 1964 stelle seinem Inhalt nach keine Berufungsschrift dar. Der Kläger habe lediglich die Richter erster Instanz angesprochen, damit aber nicht eine Überprüfung des Urteils im Rechtsmittelweg begehrt. Dies ergebe sich vor allem aus folgenden Äußerungen des Klägers in dem Schreiben: "... Noch nie hat sich ein Herr Richter so unbeherrscht gezeigt wie Sie Herr von G. Was war eigentlich die Ursache Ihrer Erregung und Verbitterung? ... Aus Verbitterung haben Sie mir die ärztliche Untersuchung nicht gewährt. Zur Ehre der Richter, die meinen anderen Unfall v. 11.2.1947 bearbeitet haben, sei gesagt, sie haben wenigstens Ihr Urteil auf ein ärztl. Gutachten gestützt. Sie aber haben Ihr Urteil v. 7.4.64 nur auf Verbitterung gegründet. ... Als Mannheimer Richter haben Sie einen zweifelhaften Ruhm erlangt, dass Sie einem Opfer des 2. Weltkrieges die erste ärztliche Hilfe verweigert haben und sein Unfall ohne Untersuchung von Seiten eines Arztes abgelehnt haben. Trotzdem bleibt der Tatbestand auf dem ich meinen Antrag begründet habe bestehen: nämlich: Kriegsfolgengesetz v. 1.9.59, Kriegsopfergesetz welches etwas später in Kraft gesetzt wurde. Reichsversicherungsordnung RVO § 1547 bestehen. S und W wurden Verräter an ihrem Kriegskameraden. Was wird der Herr Bundespräsident erst denken, wenn er erfährt, dass Sie einem schwerverletzten Menschen den Arzt verweigert haben! ...". Hieraus und aus den weiteren Ausführungen des Klägers im Schreiben vom 22. April 1964 sei allerdings zu entnehmen, daß er das Urteil für falsch halte und sich als "Opfer eines Justizurteils" betrachte. Dieses Schreiben genüge jedoch nicht den Anforderungen einer Berufungsschrift. Es lasse nicht erkennen, daß der Kläger den vom SG verneinten Klaganspruch im Rechtsmittelweg habe weiterverfolgen wollen. Auf eine solche Absicht ließen weder Form noch Inhalt des Schreibens sowie auch nicht der Umstand schließen, daß sich der Kläger trotz eindeutiger Rechtsmittelbelehrung nicht an das LSG, sondern an das SG gewandt habe. Die während des Verfahrens vor dem LSG nach Ablauf der Berufungsfrist abgegebenen Erklärungen des Klägers seien, auch soweit sie nachträglich seinen Willen zur Anrufung des nächsthöheren Gerichts zum Ausdruck brächten, nicht geeignet, eine wirksame Berufung nachzuholen. Gründe, welche die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Rechtsmittelfrist rechtfertigen könnten, seien nicht vorhanden; der Kläger sei durch nichts gehindert gewesen, entsprechend der ihm erteilten Rechtsmittelbelehrung fristgemäß von seinem Recht zur Berufungseinlegung Gebrauch zu machen. Er habe daher die Versäumung der Frist verschuldet.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 18. März 1966 zugestellt worden. Er hat gegen das Urteil am 28. März 1966 Revision eingelegt und sie gleichzeitig wie folgt begründet: Das LSG habe die §§ 64 und 65 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt. Der Kläger habe innerhalb der Berufungsfrist eine Erklärung abgegeben, aus der sich eindeutig ergebe, daß er mit der Entscheidung des SG nicht einverstanden sei. Der Sachbearbeiter beim LSG sei selbst der Überzeugung gewesen, daß dieses innerhalb der Berufungseinlegungsfrist dem LSG zugegangene Schreiben des Klägers vom 22. April 1964 als Berufungseinlegung mit Begründung habe angesehen werden können, sonst wäre der Kläger nicht aufgefordert worden, sich eindeutig zu erklären. Es widerspreche rechtsstaatlichen Grundsätzen, wenn das LSG diesem Schreiben nicht die Bedeutung einer wirksamen Berufungsschrift beigemessen habe, obwohl der Kläger auf eine entsprechende Anfrage des Berichterstatters des Berufungsgerichts unmißverständlich erklärt habe, daß er mit dem Schreiben vom 22. April 1964 habe Berufung einlegen wollen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.
II
Die Revision ist zulässig. Sie hatte aber keinen Erfolg.
Die Beteiligten streiten lediglich darüber, ob das an das SG gerichtete Schreiben des Klägers vom 22. April 1964 eine wirksame Berufungsschrift darstellt. Das LSG hat diese Frage mit einer Begründung verneint, welche der rechtlichen Nachprüfung im Revisionsverfahren standhält. Es ist eindeutig, daß innerhalb der Berufungsfrist beim LSG lediglich das angeführte Schreiben des Klägers eingegangen ist. Die Entscheidung darüber, ob dem LSG eine Sachentscheidung im vorliegenden Rechtsstreit wegen nicht fristgerechter Einlegung der Berufung des Klägers verwehrt war, hängt, da - wie später auszuführen ist - Gründe für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) nicht gegeben sind, davon ab, ob das LSG den Inhalt des Schreibens ohne Rechtsverstoß gewertet hat. Der erkennende Senat hat diese Frage bejaht. Sinn und Zweck des Schreibens sind nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht. Zweifellos enthält es an verschiedenen Stellen Erklärungen, die nicht als bloße Unmutsäußerungen über das klagabweisende Urteil des SG zu verstehen sind; der Kläger äußert seine Unzufriedenheit mit der Entscheidung. Dies genügt jedoch nicht, um dem Schreiben die Bedeutung einer Berufungsschrift im Sinne des § 151 SGG beizumessen. Nach dieser Vorschrift muß eine wirksame Berufungsschrift vielmehr die Erklärung enthalten, daß gegen das erstinstanzliche Urteil "Berufung" eingelegt werde. Allerdings bedarf es hierfür nicht einer bestimmten Ausdrucksweise, doch muß der Wille, Berufung einzulegen und damit eine Änderung der den unterlegenen Beteiligten beschwerenden Entscheidung zu erreichen, klar und bestimmt zu erkennen sein. Insoweit sind im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit nach Auffassung des erkennenden Senats in Anbetracht der Bedeutung einer Berufungsschrift, die ein bestimmender Schriftsatz ist, an ihre Wirksamkeit keine geringeren Anforderungen zu stellen als im Verfahren der Zivilgerichtsbarkeit (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 9. Aufl., S. 668 § 135 III 2 b; BGH in ZZP Bd. 66, 54; RGZ 141, 351; Stein/Jonas/Schönke/Pohle, Komm. z. ZPO, 18. Aufl., Anm. II 2 zu § 518). Ob freilich ein Schriftsatz, aus dem sich lediglich die Unzufriedenheit des Klägers mit einem erstinstanzlichen Urteil ergibt, als eine wirksame Berufungsschrift angesehen werden kann, wenn er ausdrücklich an die Berufungsinstanz gerichtet ist, kann hier auf sich beruhen. Ist der Ausdruck der Unzufriedenheit, wie im vorliegenden Streitfall, an die Instanz gerichtet, welche das Urteil erlassen hat, so vermag jedenfalls eine solche Erklärung nicht ohne weiteres den erforderlichen Willen zur Berufungseinlegung erkennbar zu machen. Umstände, welche für die Erklärung dieses Willens im vorliegenden Falle sprechen könnten, sind nicht ersichtlich. Die Annahme des LSG, der Kl. habe nicht die Weiterverfolgung seines Klaganspruchs in der nächsthöheren Instanz erstrebt, sich vielmehr mit dem Urteil abfinden wollen, als er sich nach Abschluß des erstinstanzlichen Verfahrens an das SG wandte, läßt daher Rechtsfehler nicht erkennen. Es ist vor allem nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht aus Form und Inhalt des Schreibens vom 22. April 1964, insbesondere dem Umstand, daß sich der Kläger unmittelbar an den Vorsitzenden und die beisitzenden Richter der Spruchkammer des SG, die in seinem Rechtsstreit entschieden hatten, mit persönlichen Vorwürfen gewandt und ihnen das nach seiner Ansicht durch das Urteil zugefügte Unrecht vorgehalten hat, zu der Schlußfolgerung gelangt ist, es sei dem Kläger nur darum gegangen, den Richtern einen "Denkzettel" zu verabreichen.
Die dem Kläger vom Berichterstatter des Berufungsgerichts im Rahmen der §§ 106, 153 SGG nach Ablauf der Berufungsfrist erteilte Auflage, innerhalb einer gesetzten Frist mitzuteilen, ob er mit dem Schriftsatz vom 22. April 1964 habe Berufung einlegen wollen, ist, wie offensichtlich auch die Revision nicht verkennt, nicht als Heilung der Fristversäumung zu werten. Die Frage, ob mit dem angeführten Schriftsatz des Klägers die Rechtsmittelfrist überhaupt gewahrt werden konnte, ist nach Lage des Falles nur aus dem Inhalt dieses Schreibens zu beurteilen. Soweit die Revision hierzu geltend macht, es widerspreche rechtsstaatlichen Grundsätzen, daß trotz der vom Berichterstatter veranlaßten Erklärung des Klägers, er wolle sein Schreiben vom 22. April 1964 als Berufungsschrift aufgefaßt wissen, das LSG in dieser Erklärung nicht eine nachträgliche rechtswirksame Berufungseinlegung gesehen habe, ist ihr entgegenzuhalten, daß die hier getroffene Maßnahme des Berichterstatters lediglich der Aufklärung des Sachverhalts diente, dagegen nicht streitentscheidende Bedeutung haben konnte. Wie die herbeigeführte Erklärung des Klägers zu beurteilen war, blieb allein dem mit der Streitsache befaßten erkennenden Senat des LSG vorbehalten.
Da, wie vorstehend ausgeführt ist, innerhalb der Berufungsfrist keine wirksame Berufung eingelegt worden ist, hätte dem Kläger nur im Wege der gesetzlich geregelten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) Nachsicht wegen der Fristversäumnis gewährt werden können. Die Voraussetzungen hierfür hat das LSG erschöpfend geprüft, sie zu Recht aber nicht für gegeben erachtet, weil der Kläger nicht ohne Verschulden verhindert war, eine wirksame Berufung fristgemäß einzulegen. Auch die Revision hat nichts vorgebracht, was geeignet wäre, diese Auffassung des LSG zu entkräften.
Die Revision mußte daher als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen