Leitsatz (amtlich)

An der Rechtsprechung, daß eine Verpflichtung zur Leistung eines Beitrags zum Unterhalt aus EheG § 60 keine Unterhaltsverpflichtung nach RVO § 1265 S 2 ist (vgl BSG 1972-06-28 4 RJ 145/71 = SozR Nr 63 zu § 1265 RVO), wird auch für die Zeit nach Inkrafttreten des RRG vom 1972-10-16 festgehalten.

 

Normenkette

RVO § 1265 S. 2 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; EheG § 60 Fassung: 1946-02-20; RRG Fassung: 1972-10-16

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 13. März 1975 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente nach § 1265 Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes.

Ihre Ehe mit dem - im September 1959 verstorbenen - Versicherten war aus Verschulden beider Parteien geschieden worden. Die zweite Ehefrau des Versicherten starb im Jahre 1964. Die Klägerin ging keine neue Ehe ein.

Nachdem die Beklagte durch - bindend gewordenen - Bescheid vom 3. Juni 1960 der Klägerin die Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO versagt hatte, beantragte die Klägerin am 27. August 1973 erneut, ihr die Rente zuzusprechen. Mit Bescheid vom 2. Januar 1974 lehnte die Beklagte den Antrag in Anwendung des § 1265 RVO idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes - RVÄndG - vom 9. Juni 1965 ab: Die Voraussetzungen des § 1265 Satz 1 RVO seien nicht erfüllt; auch Satz 2 der Vorschrift finde keine Anwendung, weil die Klägerin gegen den Versicherten keinen Anspruch auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrages nach § 60 Ehegesetz (EheG) erworben habe.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. August 1974), das Landessozialgericht (LSG) dagegen die Beklagte zur Gewährung der Hinterbliebenenrente vom 1. September 1973 an verurteilt (Urteil vom 13. März 1975): Der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente folge aus § 1265 Satz 2 RVO idF des Rentenreformgesetzes (RRG). Entgegen der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei der Begriff "Unterhaltsverpflichtung" in § 1265 Satz 2 RVO ebenso zu verstehen wie "Unterhalt ... zu leisten hatte" (Satz 2 der Vorschrift). Eine Unterhaltsverpflichtung im Sinne des § 1265 Satz 2 RVO bestehe also auch dann, wenn ein Beitrag zum Unterhalt nach § 60 EheG zu leisten sei. Hätte der Gesetzgeber etwas anderes gewollt, so hätte er sich bei Änderung des § 1265 Satz 2 RVO durch das RRG einer differenzierteren Formulierung bedienen müssen. Angesichts der Erweiterung der Anspruchsgrundlagen in § 1265 Satz 2 RVO durch das RRG, die der Vermeidung unbilliger Härten diene, sei eine großzügige Auslegung der Vorschrift geboten. Aus diesem Grunde seien bei der Prüfung des § 60 EheG im Rahmen des § 1265 Satz 2 RVO die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse der unterhaltspflichtigen Verwandten des bedürftigen Ehegatten unberücksichtigt zu lassen.

Die übrigen Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO seien zweifelsfrei erfüllt.

Mit der zugelassenen Revision wendet sich die Beklagte gegen die Auslegung, die das Berufungsgericht der Vorschrift des § 1265 Satz 2 RVO hat zuteil werden lassen: Der Sinn der in § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO getroffenen Regelung liege darin, Einwendungen, die sich gegen den Unterhaltsanspruch des Ehegatten aus §§ 58, 59 EheG ergeben könnten, für die Gewährung der Rente auszuschließen. Schon deshalb könne § 60 EheG nicht in § 1265 Satz 2 RVO einbezogen werden. Darüber hinaus seien die Ansprüche aus § 58 EheG und § 60 EheG ihrer Natur nach unterschiedlich. Während der Anspruch aus § 58 EheG gegen den schuldigen bzw. überwiegend an der Scheidung schuldigen Ehegatten stets gegeben sei und lediglich gewissen Einschränkungen unterliege, stehe einem Ehegatten ein Anspruch nach § 60 EheG nur ausnahmsweise zu. Im übrigen sei der lediglich subsidiäre Anspruch des § 60 EheG kein "echter" Unterhaltsanspruch. Er sei im Rahmen des § 1265 Satz 2 RVO auch deshalb unbeachtlich, weil er von Voraussetzungen abhänge, die außerhalb der Sphäre der früheren Ehegatten lägen.

Die Beklagte beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit unter Aufhebung des Berufungsurteils an das LSG zurückzuverweisen.

Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen ist. Entgegen der Ansicht des LSG ergibt sich der Rentenanspruch der Klägerin nicht aus § 1265 Satz 2 RVO.

Zu Recht ist das Berufungsgericht von § 1265 RVO idF des RRG vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S. 1965) in Kraft seit 1. Januar 1973, ausgegangen (Art. 2 § 19 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - idF des Art. 2 § 1 Nr. 5 RRG). Die Anwendung des § 1265 Satz 2 RVO scheitert aber bereits daran, daß eine Unterhaltsverpflichtung des geschiedenen Ehemannes der Klägerin nicht wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit ausgeschlossen war (vgl. § 1265 Satz 2 Nr. 1 RVO). Nach den bisher vom LSG getroffenen Feststellungen ist allein an eine Unterhaltsverpflichtung aus dem EheG zu denken. Da die Ehe aus beiderseitigem Verschulden geschieden wurde, scheiden die §§ 58, 59 EheG als Grundlage für einen Unterhaltsanspruch aus, die Klägerin hätte sich vielmehr, um eine Unterhaltszahlung zu erreichen, nur auf § 60 EheG berufen können. Dort heißt es: "Sind beide Ehegatten schuld an der Scheidung, trägt aber keiner die überwiegende Schuld, so kann dem Ehegatten, der sich nicht selbst unterhalten kann, ein Beitrag zu seinem Unterhalt zugebilligt werden, wenn und soweit dies mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des anderen Ehegatten und der nach § 63 unterhaltspflichtigen Verwandten des Bedürftigen der Billigkeit entspricht. Die Beitragspflicht kann zeitlich beschränkt werden; § 59 Abs. 1 Satz 2 findet entsprechende Anwendung". Entgegen der Ansicht des LSG stellt der Anspruch auf Zahlung eines Unterhaltsbeitrages nach § 60 EheG jedoch keine Unterhaltsverpflichtung i. S. des § 1265 Satz 2 RVO dar. Dies hat der erkennende Senat bereits zu § 1265 Satz 2 RVO idF des RVÄndG vom 9. Juni 1965 entschieden, Urteil vom 28. Juni 1972 - SozR Nr. 63 zu § 1265 RVO; ebenso Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 20. März 1973 in Mitt. LVA Württ. 1975, 125, 126 sowie des LSG Rheinland-Pfalz vom 9. Dezember 1974 in SozSich 1974, 158; Eicher/Haase/Rauschenbach, Rentenversicherung, 5. Aufl. 1973 § 1265 Anm. 13 b; Knörl in EhrRi 1974, 45, 48; aA wohl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand April 1976, S. 688 f I f).

Jene Entscheidung ist im wesentlichen auf die folgenden Erwägungen gestützt: Die Vorschrift des § 1265 RVO stehe in einer engen Beziehung zum EheG. Der aus § 1265 Satz 1 RVO hergeleitete Rentenanspruch sei dann, wenn das Urteil einen Schuldausspruch enthalte und der Versicherte Unterhalt weder geleistet habe noch aus anderen Gründen hatte leisten müssen, in der Regel davon abhängig, welcher Ehegatte die Schuld an der Scheidung trage. Nur der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Ehegatte habe nach § 58 EheG unter den dort bezeichneten Voraussetzungen Unterhalt zu leisten. - Diese Bindung an das EheG sei auch in § 1265 Satz 2 RVO gewahrt. Wenn eine Witwenrente nicht zu gewähren sei, so komme dies nicht ohne weiteres der geschiedenen Ehefrau zugute. Diesen an sich möglichen Weg habe der Gesetzgeber nicht beschritten. Vielmehr sei es auch in Satz 2 der Vorschrift bei der engen Anlehnung an das EheG geblieben, wenn auch mit der Modifizierung, daß die ungünstigen Vermögens- oder Erwerbsverhältnisse des Versicherten den Rentenanspruch nicht zu Fall bringen könnten.

Demgegenüber handele es sich bei dem Unterhaltsbeitrag, der nach § 60 EheG zu gewähren sei, um eine Leistung eigener Art. Abgesehen davon, daß er im Einzelfall möglicherweise nur auf Zeit zugebilligt werde, richte er sich nicht nur nach den Bedürfnissen und den Vermögens- und Erwerbsverhältnissen der geschiedenen Ehegatten. Auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der unterhaltspflichtigen Verwandten des Bedürftigen seien zu berücksichtigen.

Daraus und aus der weiteren Erwägung, daß - solange das geltende Scheidungsrecht auf dem Verschuldensprinzip beruhe - eine Kürzung anderer Hinterbliebenenrenten (vgl. § 1270 RVO) nur schwer verständlich sei, wenn sie erforderlich würde, um der früheren Ehefrau des Versicherten, die wie dieser die Scheidung verschuldet habe, eine Rente zuzusprechen, hat der Senat dem unterschiedlichen Wortlaut der Sätze 1 und 2 des § 1265 RVO Bedeutung beigemessen. Er hat die Auffassung vertreten, daß "Unterhalt zu leisten hatte" (vgl. § 1265 Satz 1 RVO) etwas anderes bedeute als "Unterhaltsverpflichtung" (§ 1265 Satz 2 RVO). Der zuletzt genannte Begriff sei so auszulegen, daß er nur die sog. echte Unterhaltspflicht erfasse.

An der vorbezeichneten Auslegung, die sich - wie vorstehend dargetan - nicht etwa ausschließlich oder auch nur überwiegend am Wortlaut des Gesetzes orientiert, hält der Senat auch nach Inkrafttreten des RRG fest. Die Vorschrift des § 1265 Satz 2 RVO ist nicht in einer Weise geändert worden, daß sich eine andere Auslegung anbieten würde. Die geschiedene Ehefrau erhält auch weiterhin nicht immer dann schon eine Rente, wenn eine Witwe nicht vorhanden ist. Vielmehr müssen weitere - in § 1265 Satz 2 RVO im einzelnen bezeichnete - Voraussetzungen erfüllt sein. - Der Senat hält auch den Umstand für bedeutsam, daß bei der Neufassung des § 1265 Satz 2 RVO an dem Begriff "Unterhaltsverpflichtung" festgehalten worden ist. Dies ist offensichtlich in Kenntnis der bisherigen Rechtsprechung des BSG geschehen. Daraus folgt, daß die Auslegung, die die Rechtsprechung dem vorbezeichneten Begriff hat zuteil werden lassen, vom Gesetzgeber zumindest gebilligt wird.

Wenn schon in der Regel von einer höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht dann schon abgewichen werden soll, wenn sich sowohl für die eine als auch die andere Ansicht Argumente finden lassen (vgl. das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des BSG vom 29. Oktober 1975 - 12 RJ 290/72 - mit weiteren Hinweisen), so muß dies erst recht gelten, wenn - wie hier - in absehbarer Zeit das Inkrafttreten einer einschneidenden Gesetzesänderung bevorsteht (vgl. Erstes Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts vom 14. Juni 1976 - BGBl I, 1421 -).

Daraus, daß das BSG im Rahmen des § 1265 Satz 2 RVO die Unterhaltsleistung nach § 61 Abs. 2 EheG dem Unterhaltsbeitrag nach § 60 EheG nicht gleichgestellt hat, läßt sich ein anderes als das vorstehend gewonnene Ergebnis nicht herleiten.

Hiernach steht der Klägerin ein Rentenanspruch nach § 1265 Satz 2 RVO nicht zu.

Der Senat ist jedoch gehindert, eine abschließende Entscheidung zu treffen. Es bedarf noch der Prüfung, ob die Klägerin nicht nach § 1265 Satz 1 RVO rentenberechtigt ist. Diese Prüfung ist nicht etwa dadurch ausgeschlossen, daß die Beklagte einen solchen Anspruch früher einmal durch bindend gewordenen Bescheid verneint hat. Durch den diesem Verfahren zugrunde liegenden Bescheid hat sie über den von der Klägerin erhobenen Anspruch umfassend - also auch im Hinblick auf § 1265 Satz 1 RVO - entschieden. Es fehlt jedoch insoweit an den erforderlichen Tatsachenfeststellungen. Damit diese nachgeholt werden können, muß der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649149

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