Entscheidungsstichwort (Thema)
Versicherungsschutz ausländischer Arbeitnehmer auf der Fahrt vom Ort der Inlandsbeschäftigung in den Heimatstaat
Orientierungssatz
1. Auch bei Anwendung von § 550 Abs 3 RVO soll der Unfallversicherungsschutz durch "unbedeutende" Umwege oder Unterbrechungen nicht ausgeschlossen sein. Ein Umweg von 100 km ist aber, unabhängig von der Gesamtlänge des Weges, nicht mehr als ein nur unbedeutendes Abweichen vom Weg zur Familienwohnung anzusehen.
2. Trotz bedeutenden Abweichens vom Weg zur Familienwohnung kann der ursächliche Zusammenhang zwischen eingeschlagenem Weg und versicherter Tätigkeit gewahrt sein. Dabei sind alle maßgeblichen Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen, wie etwa die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit, im Hinblick auf das gewählte Verkehrsmittel einen bestimmten Weg einzuschlagen, um möglichst zügig und sicher die Familienwohnung zu erreichen. Nicht jedoch genügt es, bei der Prüfung der Zusammenhangsfrage lediglich einen Vergleich der kürzesten und der zurückgelegten Wegstrecke anzustellen.
3. Die Unmöglichkeit, die Umstände festzustellen, die für die Wahl der weiteren Wegstrecke maßgeblich waren, geht zu Lasten desjenigen, der Ansprüche geltend macht; der Versicherungsschutz war deshalb im zu entscheidenden Fall zu verneinen.
Normenkette
RVO § 550 Abs 3 Fassung: 1974-04-01
Tatbestand
Unter den Beteiligten ist streitig, ob der Ehemann der Klägerin zu 1) N (N.) sich am 13./14. Juni 1975 gem § 550 Abs 3 Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz stand, als er auf der von ihm benutzten Autobahn Würzburg-München in der Gemarkung Manching tödlich verunglückte.
N. war in Ludwigshafen beschäftigt. Von dort aus trat er eine Urlaubsreise an, um seine Familie zu besuchen. N. fuhr mit seinem Pkw zunächst in nördlicher Richtung nach Mainz, weil ein Landsmann, der mit seinem PKW ebenfalls in seine Heimat fahren wollte, dort einen anderen Arbeitskollegen zusteigen lassen wollte. Von Mainz aus wurde die Fahrt über die Autobahnstrecke Frankfurt-Würzburg-Nürnberg in Richtung München fortgesetzt. Verkehrsgünstiger und um mehr als 100 km kürzer wäre die Strecke von Ludwigshafen über Stuttgart nach München gewesen.
Die Beklagte lehnte zunächst gegenüber der Klägerin zu 1) (Bescheid vom 13. Juni 1977) und danach gegenüber deren Kindern (Kläger zu 2) und 3)) sowie den gemeinsamen Kindern (Kläger zu 4) und 5)) - Bescheid vom 15. Januar 1980 - die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen des Todes des N. ab. N. habe sich im Zeitpunkt des Unfalles auf einem unfallversicherungsrechtlich nicht geschützten Umweg befunden.
Die gegen diese Bescheide gerichtete Klage hatte Erfolg. Das Sozialgericht (SG) ist davon ausgegangen, N. habe aus Gründen der Sicherheit den Weg im Zwei-Wagen-Konvoi gewählt; dieser maßgebliche Umstand lasse den gefahrenen Umweg als rechtlich nicht erheblich erscheinen (Urteil vom 19. März 1980).
Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung ist von dem Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen worden (Urteil vom 4. Dezember 1980). Das LSG hat zwar die Motive, welche N. veranlaßt hatten, die längere und verkehrsungünstigere Strecke zu fahren, anders als das SG, nicht feststellen können. Es hat den Umweg jedoch deshalb als nicht erheblich angesehen, weil er "schon der Länge nach in bezug auf die Gesamtstrecke von rund 3.000 km nur geringfügig" sei. Das mit der Heimfahrt versicherte Gesamtrisiko sei nur unbedeutend erhöht worden. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Sie meint, das LSG habe das Vorhandensein einer Familienwohnung in der Türkei nicht ausreichend festgestellt. Zudem müsse bei Familienheimfahrten in fernere Länder eine Begrenzung des Versicherungsschutzes gefunden werden, welcher an dem geschützten Hauptrisiko, der versicherten Tätigkeit, ausgerichtet sei. Im vorliegenden Falle seien betriebliche Gründe für den Umweg des N. nicht maßgebend gewesen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts vom
4. Dezember 1980 und das Urteil des Sozialgerichts
vom 19. März 1980 aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie halten die rechtlichen Ausführungen der Instanzgerichte für überzeugend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. N. ist auf einem mit seiner versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängenden Weg verunglückt. Die Kläger haben daher keinen Anspruch auf die begehrten Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung.
Gemäß § 550 Abs 1 und 3 RVO gilt als Arbeitsunfall ua auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg zur ständigen Familienwohnung. Dadurch, daß der Gesetzgeber einen Zusammenhang zwischen der Tätigkeit und dem Weg zur Familienwohnung verlangt, erfordert er eine feststellbare innere Verknüpfung, die dem Weg ein rechtlich erhebliches Gepräge gibt. Fehlt es an einem solchen Zusammenhang, scheidet die Annahme eines versicherten Unfalles von vornherein selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf derselben Strecke ereignet, die der Versicherte auf der Familienheimfahrt benutzen muß (BSG SozR 2200 § 550 Nr 34).
Der in diesem Rechtsstreit in erster Linie umstrittene innere Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem zurückgelegten Weg ist regelmäßig dann gegeben, wenn der Versicherte angesichts des ausgewählten Fortbewegungsmittels (BSGE 4, 219, 222) den direkten Weg zwischen den beiden Punkten, hier: der Arbeitsstätte und der Familienwohnung, nimmt. Wählt der Versicherte dagegen nicht die kürzeste Verbindung zwischen den beiden Orten (BSGE aaO), kommt es darauf an, ob nach den Umständen des Einzelfalles auch für den weiteren Weg der ursächliche Zusammenhang gegeben ist (a.A. Benz, BB 1979, 943, 944, 947). Der Senat hat in ständiger Rechtsprechung (s. BSG SozR Nr 33 und 42 zu § 543 RVO aF und Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S. 486 m I - mit zahlreichen weiteren Nachweisen) bei privaten Verrichtungen dienenden Umwegen oder Unterbrechungen des Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit den ursächlichen Zusammenhang lediglich durch "unbedeutende" Umwege oder Unterbrechungen als nicht ausgeschlossen angesehen (s. ua BSG SozR 2200 § 550 Nr 44). Damit soll aber im wesentlichen der Versicherungsschutz nur bei privaten Verrichtungen nicht ausgeschlossen sein, die "so im Vorbeigehen" erledigt werden. Ein Umweg von 100 km ist aber unabhängig von der Gesamtlänge des Weges nicht mehr als ein nur unbedeutendes Abweichen von dem Wege zur Familienwohnung anzusehen. Bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem eingeschlagenen Weg und der versicherten Tätigkeit kommt es auch im übrigen nicht allein auf einen Längenvergleich zwischen der direkten und der gewählten Strecke an; vielmehr sind alle maßgeblichen Gesichtspunkte in Betracht zu ziehen; etwa die Notwendigkeit oder die Zweckmäßigkeit, im Hinblick auf das gewählte Verkehrsmittel einen bestimmten Weg einzuschlagen, um möglichst zügig und sicher die Familienwohnung (oder: die Arbeitsstätte) zu erreichen (BSGE 4, 219, 222; s.a. Brackmann aaO S. 486 1, mit umfangreichen Nachweisen). Diese rechtlichen Verhältnisse hat das LSG nicht übersehen. Es hat jedoch im Widerspruch hierzu die Entscheidung der Rechtssache letztlich ausschließlich entsprechend dem Ergebnis des Vergleichs der Länge der kürzesten und der zurückgelegten Gesamtstrecke entschieden. Das war rechtsfehlerhaft. So hat der erkennende Senat beispielsweise Unfallversicherungsschutz auf einem Weg, der viermal so lang war wie die kürzeste Verbindung, nicht von vornherein abgelehnt (BSG SozR § 543 RVO aF Nr 42) und diesen Schutz auf einem anderen Weg bejaht, welcher mehr als doppelt so lang war wie der kürzeste (SozSich 1976, 210; s. auch BSG SozR 2200 § 550 Nr 34). Die Längenunterschiede zwischen dem direkten und dem eingeschlagenen Weg können vor allem bei relativ kurzen Wegstrecken besonders groß sein, ohne daß Unfallversicherungsschutz schon aus diesem Grunde zu verneinen ist. Eine schematische Betrachtung, wie sie das LSG angestellt hat, ist weder bezüglich des Verhältnisses der Gesamtwegstrecken noch einzelner Streckenabschnitte zulässig (a.A. Benz aaO). Vielmehr sind im Wege richterlicher Überzeugungsbildung alle im Einzelfall ermittelbaren rechtserheblichen Umstände heranzuziehen, welche den vom Gesetz verlangten Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem gewählten Weg zur Familienwohnung entweder ausschließen oder begründen. Der von Benz (aaO S 944) erhobene Vorwurf, insoweit "reine Leerformeln" zu benutzen, berücksichtigt nicht die zahlreichen Umstände, welche auch für den Gesetzgeber erkennbar bedeutungsvoll waren und die im Unfallrecht bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs fast ständig zu erörtern sind.
N. befand sich am Unfallort zwar auf einem Weg mit der Zielrichtung Familienwohnung. Jedoch liegt diese Stelle im Bereich der von ihm gewählten bedeutend längeren Wegstrecke. Ein Versicherungsschutz hätte nur angenommen werden dürfen, wenn das LSG den oben mehrfach beschriebenen Zusammenhang festgestellt hätte. Das Gegenteil ist indes der Fall. Das LSG hat - im Gegensatz zum SG - die Motive des N. für die Benutzung der - nach den Feststellungen des LSG - nicht nur längeren sondern auch verkehrsungünstigeren Strecke nicht festzustellen vermocht. Es hat insbesondere die Annahme des SG verneint, wonach N. wegen der damit verbundenen größeren Sicherheit für die lange Fahrt das Fahren im Zweierkonvoi trotz der längeren Wegstrecke gewählt habe. An diese Feststellungen des LSG ist der Senat, da zulässige und begründete Anschlußrügen nicht vorgebracht sind, gebunden (§ 163 SGG). Er hat demgemäß von den getroffenen weiteren Feststellungen des LSG auszugehen. Danach benutzte N. die Strecke über Mainz, weil dort ein Landsmann in den PKW des Bekannten zusteigen wollte. Für den hier zu entscheidenden Rechtsstreit ist unerheblich, ob dieses Vorhaben schon vor dem Unfall durchgeführt war oder erst danach erledigt werden sollte. In jedem Falle befand N. sich noch auf der weiteren Wegestrecke. Für die Wahl dieses Weges sind aber Umstände, welche einen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit des N. herstellen könnten, nicht festgestellt. Die Unmöglichkeit, den anspruchsbegründenden Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit des N. und der gewählten Wegstrecke festzustellen, geht zu Lasten derjenigen, welche die Ansprüche geltend machen. Infolgedessen hat die Beklagte die angefochtenen Bescheide ohne Rechtsverstoß erlassen. Die Urteile des LSG und des SG waren aufzuheben und die gegen die Bescheide gerichteten Klagen abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen