Orientierungssatz
Wer ein Kraftfahrzeug führt, verliert den Schutz der gesetzlichen UV, wenn er sich aus unternehmensfremden Gründen durch Alkoholgenuß in einen Zustand versetzt hat, in dem er fahruntüchtig ist, dh, nicht mehr verkehrssicher fahren kann. Fahruntüchtig ist ein Kraftfahrer jedenfalls dann, wenn bei ihm eine höhere Blutalkoholkonzentration als 1,5 o/oo festgestellt worden ist, keine besonderen Umstände gegen die Richtigkeit dieser Blutalkoholbestimmung sprechen und nur allgemeine Bekundungen von Zeugen über seine angebliche Fahruntüchtigkeit vorliegen.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision der Klägerinnen gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. März 1954 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Klägerin zu 2), der Fleischer und Viehhändler ... war am Sonntag, den 9. September 1951 mit seinem Motorrad unterwegs gewesen und ist zwischen 20.00 und 21.00 Uhr beim Überfahren eines unbeschrankten Bahnübergangs von einem Lokalbahnzug erfaßt und sofort getötet worden. Die Untersuchung des der Leiche entnommenen Blutes durch das Institut für gerichtliche Medizin der Universität Erlangen hat einen Alkoholgehalt von 1,78 0 / 00 ergeben.
Die beklagte Berufsgenossenschaft hat die Entschädigungsansprüche der Klägerinnen durch Bescheid vom 20. Februar 1952 mit der Begründung abgelehnt, ... habe jeden Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit dadurch gelöst, daß er sein Kraftfahrzeug bestiegen habe, obwohl infolge von Alkoholgenuß die im Verkehr erforderliche Fahrsicherheit nicht mehr vorgelegen habe. Die Frage, ob ein solcher Zusammenhang im Zeitpunkt des Unfalls bereits aus anderen Gründen nicht mehr bestand, hat sie offen gelassen.
Die Berufung gegen diesen Bescheid hat das Oberversicherungsamt Nürnberg mit Urteil vom 8. Juli 1952 zurückgewiesen. Das Oberversicherungsamt hat als erwiesen angesehen, daß die Fahrt, während der sich der Unfall ereignet hat, an sich noch geschäftlichen Zwecken gedient habe; es hat jedoch das Bestehen eines Versicherungsschutzes mit der Begründung verneint, daß ... infolge erheblicher Alkoholeinwirkung zum Fahren seines Kraftfahrzeuges nicht mehr in der Lage gewesen und daß dadurch eine Lösung von der versicherten Tätigkeit eingetreten sei.
Der gegen dieses Urteil eingelegte Rekurs ist nach § 215 Abs.3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht übergegangen und von ihm durch Urteil vom 18. März 1954 zurückgewiesen worden.
Das Landessozialgericht hat im Urteil die Revision zugelassen.
Die Klägerinnen haben gegen dieses Urteil, das am 11. Mai 1954 zugestellt worden ist, mit Schriftsatz vom 19. Mai 1954 (eingegangen beim Bundessozialgericht am 22. Mai 1954) Revision eingelegt und die Revision in demselben Schriftsatz begründet.
Sie beantragen, das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist statthaft (§§ 160, 161 Abs.1 Nr.1 SGG) und in gesetzlicher Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.
Das Urteil des Landessozialgerichts befaßt sich lediglich mit der Frage, ob das Oberversicherungsamt zutreffend angenommen habe, daß ... während der zum Unfall führenden Fahrt nicht mehr fahrtüchtig gewesen und der dadurch geschaffenen Gefahr zum Opfer gefallen sei, und ob das Oberversicherungsamt bei dieser Sachlage mit Recht eine den Versicherungsschutz aufhebende "Lösung vom Betrieb" festgestellt habe. Das Landessozialgericht hat also offenbar in Übereinstimmung mit dem Oberversicherungsamt als erwiesen angesehen, daß die Fahrt an sich noch geschäftlichen Zwecken gedient habe. Infolgedessen war im Revisionsverfahren gleichfalls hiervon auszugehen.
Für die Entscheidung darüber, ob ... im Zeitpunkt des Unfalls noch unter dem Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand - und damit für die Entscheidung über die Entschädigungsansprüche seiner Hinterbliebenen - ist also in erster Linie von Bedeutung, welche rechtlichen Folgerungen sich für das Bestehen des Versicherungsschutzes ergeben, wenn die Fähigkeit zum Ausüben einer an sich versicherten Tätigkeit durch die Auswirkungen von Alkoholgenuß beeinträchtigt ist.
Wie im angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt ist, hat das Reichsversicherungsamt ursprünglich nur dann eine Lösung des ursächlichen Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit angenommen und damit das Bestehen eines Versicherungsschutzes verneint wenn die Alkoholeinwirkung jede Arbeitsverrichtung irgendwelcher Art schlechthin unmöglich machte (vgl. Reichsversicherungsordnung, herausgegeben von Mitgliedern des RVA, 2.Aufl. § 544 S.61 und die dort angeführten Entscheidungen). Die neuere Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts hat es jedoch bei der Prüfung, ob eine Lösung dieses ursächlichen Zusammenhangs eingetreten war, auf die jeweils tatsächlich in Frage stehenden Verrichtungen, d.h. auf die Tätigkeiten abgestellt, auf die sich der Versicherungsschutz im Einzelfall erstreckte (vgl. EuM. Bd. 46 S.405). Wenn die Tätigkeit, für die der Versicherungsschutz streitig ist, im Lenken eines Kraftfahrzeuges bestand, kommt es nach dieser Rechtsmeinung darauf an, ob der Lenker des Kraftfahrzeugs noch die hierzu erforderlichen Fähigkeiten besaß oder sie durch die Alkoholeinwirkung verloren hatte.
Diese Rechtsmeinung, auf der das angefochtene Urteil beruht, hat auch in der Rechtsprechung und im Schrifttum der Nachkriegszeit weitgehende Zustimmung gefunden (vgl. z.B. Bayer. LVA, Breithaupt 1952 S.654, Hess. LSG., Breithaupt 1955 S.477, LSG. Celle, Breithaupt 1955 S.931, Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-4.Aufl., Bd. II S.489, Wagner, Der Arbeitsunfall, 3.Aufl. 1955 S.150 f, Sperling in Berufsgenossenschaft 1956 S.116; a.A. z.B. LSG. Baden-Württemberg, Breithaupt 1954 S.897, Klink, Wege zur Sozialversicherung 1956 S.166).
Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsmeinung angeschlossen. Jedoch ist darauf hinzuweisen, daß der Versicherungsschutz nicht schlechthin dadurch entfällt, daß der Versicherte aus irgendwelchen Gründen nicht mehr in der Lage ist, die Tätigkeit auszuüben, auf die sich dieser Versicherungsschutz bezieht. Eine Lösung des ursächlichen Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit wird vielmehr nur dann herbeigeführt, wenn der Versicherte sich aus unternehmensfremden Gründen selbst durch Alkoholgenuß in einen Zustand versetzt hat, in dem er nicht mehr die für die Ausübung der in Betracht kommenden Betriebstätigkeit erforderlichen Fähigkeiten besitzt.
Im vorliegenden Fall umfaßte der Versicherungsschutz für die Tätigkeit des verunglückten ... als Fleischer und Viehhändler zugleich auch das Lenken des Kraftfahrzeugs, dessen ... sich für seine Geschäftsfahrten bediente. Da der Unfall sich auf einer solchen Fahrt ereignet hat, ist entscheidend, ob das Landessozialgericht mit Recht angenommen hat, daß ... infolge des vorangegangenen Alkoholgenusses nicht mehr zum Fahren des Kraftfahrzeugs fähig war.
Bei der Prüfung dieser Frage muß nach der Auffassung des Senats auf die erhöhte Verantwortung Rücksicht genommen werden, die unter den heutigen Verkehrsverhältnissen mit dem Lenken eines Kraftfahrzeuges im Verkehr verbunden ist und deren Berücksichtigung ein gerechtes Anliegen der Allgemeinheit ist (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., Stand Januar 1956, § 542 3 II o, Bemerkung zu dem in Breithaupt 1952 S.1233 veröffentlichten Urteil des LVAmts Württ.-Baden vom 23.4.1952). Ein Kraftfahrer ist deshalb schon dann als fahrunfähig, d.h. als unfähig anzusehen das Kraftfahrzeug zu lenken, wenn seine Trunkenheit einen solchen Grad erreicht hat, daß er nicht mehr verkehrssicher fahren kann.
Nach der weitaus herrschenden Meinung ist ein solcher Grad der Trunkenheit spätestens bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,5 0 / 00 erreicht. Die Fahrfähigkeit ist nach dieser Auffassung in der Regel schon bei einem weitaus geringeren Grad von Alkoholbeeinflussung infolge der Herabsetzung der Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit, der Störung des Gleichgewichtssinns und der enthemmenden Wirkungen des Alkohols so wesentlich beeinträchtigt, daß schwierigere Verkehrslagen nicht mehr gemeistert werden können und somit die im heutigen Verkehr erforderliche Sicherheit im Lenken des Kraftfahrzeugs nicht mehr gegeben ist. Die Grenze von 1,5 0 / 00 ist bewußt weit gezogen worden und berücksichtigt bereits die individuellen Verschiedenheiten in der Alkoholverträglichkeit und die Schwankungsbreite der zur Feststellung der Blutalkoholkonzentration benutzten Verfahren.
Dieser Auffassung, die, wie das Landessozialgericht zutreffend ausgeführt hat, bereits vom Reichsversicherungsamt und vom Reichsgericht vertreten worden war, hat sich auch der Bundesgerichtshof in seiner neueren Rechtsprechung angeschlossen (vgl. z.B. BGH in BGHSt. Bd. 5 S. 168 und in NJW 1956 S.21). Auf Grund der Bedenken, die gegen diese Auffassung in Schrifttum und Rechtsprechung geäußert worden waren, hat der Bundesminister des Innern auf Veranlassung des Bundesministers der Justiz den Präsidenten des Bundesgesundheitsamts mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt, das vom Bundesverkehrsministerium veröffentlicht worden und allgemein erhältlich ist (Kirschbaum-Verlag, Bielefeld), so daß gegen seine Verwertung im vorliegenden Verfahren keine Bedenken bestehen. Dieses Gutachten kommt zu dem Ergebnis: "Es sind keine wissenschaftlich begründeten Tatsachen bekannt, auf Grund deren angenommen werden kann, daß jenseits einer Blutalkoholkonzentration von 1,5 0 / 00 noch Fahrtüchtigkeit besteht" (S. 6, vgl. auch S.46).
Im vorliegenden Fall hat die Revision keine Gründe vorgetragen, die geeignet sind, die tatsächlichen Feststellungen des Landessozialgerichts hinsichtlich der Blutalkoholkonzentration in Frage zu stellen. Der Senat mußte deshalb entsprechend diesen Feststellungen davon ausgehen, daß die bei ... ermittelte Blutalkoholkonzentration 1,78 0 / 00 betragen hat (§ 163 SGG).
Die Revision wendet sich gegen die auf diesen Feststellungen beruhenden Schlußfolgerung des Landessozialgerichts mit dem Hinweis darauf, daß die Blutprobe nicht sofort nach dem Unfall, sondern erst später der Leiche entnommen worden sei. Die Blutentnahme ist aber nach dem Gutachten des Instituts für gerichtliche Medizin der Universität Erlangen vom 11. September 1951 (Bl. 8 der Akten der Staatsanwaltschaft Bamberg 5 JS 5694/51) am Unfalltag um 23,30 Uhr erfolgt, also innerhalb eines Zeitraums, aus dem nach der Auffassung des Senats noch keine Bedenken herzuleiten sind. Auf die Frage der Resorptions- und Abbaugeschwindigkeit braucht im vorliegenden Fall nicht eingegangen zu werden, da ... sofort getötet worden war.
Der vorliegende Fall nötigt auch nicht zu einem Eingehen auf die Auffassung der Revision, daß eine Feststellung der Fahrtüchtigkeit nicht allein auf das Ergebnis einer Blutalkoholbestimmung gestützt werden könne. Denn das Landessozialgericht hat den Schluß, daß ... fahruntüchtig gewesen sei, nicht nur mit der festgestellten Blutalkoholkonzentration, sondern auch mit seinen Feststellungen über den Unfallhergang begründet, die von der Revision nicht angefochten worden sind. Es hat es als eine Folge der Alkoholbeeinflussung gewertet, daß ..., als er sich dem Bahnübergang näherte, die Fahrgeschwindigkeit nicht rechtzeitig herabgesetzt, sondern im Gegenteil versucht hat, unter Erhöhung der Fahrgeschwindigkeit noch vor dem herannahenden Zug die Bahngleise zu überqueren. Der Einwand der Revision, ... habe den Zug erst im letzten Augenblick gesehen und sein Verhalten spreche deshalb gerade für seine Geistesgegenwart und Reaktionsfähigkeit, kann nach der Auffassung des Senats die Schlußfolgerungen des Landessozialgerichts nicht entkräften. Das Landessozialgericht hat den vom Recht zur freien Beweiswürdigung gezogenen Rahmen nicht überschritten, indem es im Gegensatz zu dieser Ansicht der Revision die Fahrweise ... unter Hervorhebung des Umstandes, daß ihm der Bahnübergang als gefährlich bekannt war, als eine Folge der Alkoholbeeinflussung angesehen hat; denn abgesehen davon, daß eine Verminderung der Wahrnehmungs- und Konzentrationsfähigkeit eine Rolle gespielt haben kann, ist es gerade für die enthemmende Wirkung des Alkohols typisch, daß ... sich der ihm nach der Feststellung des Landessozialgerichts bekannten Gefahrenstelle nicht mit der für einen verantwortungsbewußten Fahrer selbstverständlichen Vorsicht genähert hat.
Da somit im vorliegenden Fall die Blutalkoholkonzentration nur eine der Grundlagen war, aus denen das Landessozialgericht auf das Vorliegen von Fahrunfähigkeit geschlossen hat, vermag der Einwand der Revision, das Landessozialgericht habe die Gewöhnung des Stauffer an Alkoholgenuß und seine Gesamtpersönlichkeit nicht berücksichtigt, die Schlußfolgerungen des Landessozialgerichts nicht in Frage zu stellen. Im übrigen trägt die Obergrenze von 1,5 0 / 00 bereits derartigen individuellen Besonderheiten weitgehend Rechnung, und für das Vorliegen darüber hinausgehender Besonderheiten (z.B. Zuckerkrankheit, Einnahme von Medikamenten, die den Blutalkoholspiegel beeinflussen) ergibt sich weder aus dem Akteninhalt noch aus dem Vorbringen der Klägerinnen ein Anhalt.
Unter diesen Umständen hat nach der Auffassung des Senats das Landessozialgericht auch seine Verpflichtung zur Erforschung des Sachverhalts (§ 103 SGG) nicht dadurch verletzt, daß es davon abgesehen hat, Zeugen darüber zu vernehmen, wieviel Alkohol ... getrunken hatte. Die von den Klägerinnen benannten Zeugen hätten ohnehin nur über die Vorgänge während des Nachmittags Auskunft geben können, so daß die Frage eines etwa vorangegangenen Alkoholgenusses offen geblieben wäre. Vor allem aber würden etwaige mit der festgestellten Blutalkoholkonzentration in Widerspruch stehende Angaben nicht ausgereicht haben, die auf Blutalkoholkonzentration und Unfallhergang gestützten Schlußfolgerungen ernstlich in Frage zu stellen.
Der erkennende Senat brauchte sich deshalb auch nicht mit dem bereits verschiedentlich Gegenstand der Rechtsprechung gewesenen Sonderfall zu befassen, daß sämtliche sonst festgestellten Umstände gegen die Richtigkeit der ermittelten Blutalkoholkonzentration sprechen. Ebenso kann im vorliegenden Fall die Besonderheit unerörtert bleiben, die sich dann ergeben kann, wenn ein in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis stehender Versicherter aus betrieblichen Gründen zum Alkoholgenuß veranlaßt war (vgl. Demiani in Betriebsberater 1951 S. 732).
Das Landessozialgericht hat vielmehr ohne Rechtsirrtum als erwiesen angesehen, daß ... während der Fahrt, auf der sich der tödliche Unfall ereignet hat, nicht fahrtüchtig war, und hat zutreffend eine den Versicherungsschutz aufhebende Lösung des ursächlichen Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit angenommen.
Die Revision der Klägerinnen war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen