Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung der Betreuungspflicht des Leistungsträgers gegenüber Versicherten

 

Leitsatz (amtlich)

Wird eine während der medizinischen Rehabilitation beantragte Maßnahme der beruflichen Rehabilitation infolge einer vom Rehabilitationsträger zu vertretenden verzögerlichen Behandlung des Antrags so spät begonnen, daß der letzte Tag des Bemessungszeitraumes bei Beginn der Maßnahme iS des § 1241a Abs 2 RVO länger als drei Jahre zurückliegt, so hat der Antragsteller einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch auf Berechnung des Übergangsgeldes nach § 1241a Abs 1 RVO.

 

Leitsatz (redaktionell)

Aus dem zwischen Versicherten und Leistungsträger bestehenden Sozialrechtsverhältnis trifft den Leistungsträger als Nebenpflicht eine Betreuungspflicht; bei Verletzung dieser Betreuungspflicht hat der Versicherte einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch.

 

Orientierungssatz

Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist durch die Bestimmungen des SGB nicht beseitigt worden.

 

Normenkette

RVO § 1241a Abs. 1-2, § 1241e; SGB 1 § 2 Abs. 2 Fassung: 1975-12-11, § 13 Fassung: 1975-12-11, § 14 Fassung: 1975-12-11

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 13.09.1984; Aktenzeichen L 3 J 3/84)

SG Lübeck (Entscheidung vom 07.11.1983; Aktenzeichen S 3 J 77/83)

 

Tatbestand

Der 1935 geborene Kläger hat bis zum Februar 1979 den Beruf des Kochs ausgeübt. Von Januar bis Juli 1980 gewährte ihm die Beklagte ein Heilverfahren und setzte sein Übergangsgeld dem im Monat Januar 1979 erzielten Lohn entsprechend mit täglich 64,86 DM fest. Während des Heilverfahrens beantragte der Kläger Berufsförderung. Als deren Notwendigkeit ärztlich bejaht und das zuständige Arbeitsamt um einen Eingliederungsvorschlag ersucht war, bewilligte die Beklagte ihm ab 29. Juli 1980 Zwischen-Übergangsgeld nach § 1241e der Reichsversicherungsordnung (RVO), das sie zuletzt mit 71,34 DM täglich festsetzte.

Im März 1982 unterbreitete das Arbeitsamt einen Berufsförderungsvorschlag. Im April 1982 bewilligte die Beklagte dem Kläger die Umschulung zum Bürokaufmann. Das Übergangsgeld für die Dauer dieser Maßnahme setzte sie durch Bescheid vom 12. August 1982 und Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 1983 mit 33,08 DM täglich fest, weil der letzte Tag des Bemessungszeitraumes (Januar 1979) bei Beginn der Berufsförderungsmaßnahme mehr als drei Jahre zurückgelegen habe und deshalb nach § 1241a Abs 2 RVO idF des Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetzes (AFKG) der im Monat vor Beginn der Maßnahme erzielbare Tariflohn maßgebend sei.

Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Lübeck mit Urteil vom 7. November 1983 abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Schleswig-Holstein durch Urteil vom 13. September 1984 das Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger durch neuen Bescheid ab 2. August das Übergangsgeld für die Dauer der beruflichen Rehabilitation unter Zugrundelegung des im Monat Januar 1979 erzielten Lohnes zu bewilligen. Es hat ausgeführt, nach der Zielvorstellung des Gesetzgebers dürfe der Kläger nicht deshalb, weil er auf den Beginn der Umschulung mehr als zwei Jahre habe warten müssen, mit dem zusätzlichen wirtschaftlichen Nachteil eines während der Berufsförderungsmaßnahme um mehr als 50% reduzierten Übergangsgeldes belastet werden. Das folge aus dem § 1241e RVO zu entnehmenden Rechtsgedanken, der für die Berufsförderungsmaßnahme jedenfalls dann gelten müsse, wenn zwischen der medizinischen Maßnahme und der Berufsförderung mehr als ein Jahr vergehe und das Übergangsgeld für die Berufsförderung dasjenige für die Zwischenzeit um mehr als 20% unterschreite, zumal die Rehabilitationsträger dadurch zur zügigen und nahtlosen Durchführung des Verfahrens angehalten würden.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzungen der §§ 1241a und 1241e RVO. § 1241a Abs 2 RVO enthalte eine typisierende Regelung, die dem Gesetzgeber im Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit zustehe. § 1241e RVO könne deshalb nicht auf einen Folgenbeseitigungsanspruch ausgedehnt werden.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 13. September 1984 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 7. November 1983 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen. Das LSG hat im Ergebnis zutreffend die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 2. August 1982 das Übergangsgeld für die Dauer der beruflichen Rehabilitation unter Zugrundelegung des im Monat Januar 1979 erzielten Lohnes zu bewilligen. Dabei kann offenbleiben, ob die Verurteilung der Beklagten mit der vom LSG vertretenen oder mit der vom Kläger in der Revisionserwiderung zu § 1241d RVO ergänzend entwickelten Rechtsauffassung begründet werden kann.

Zutreffend hat das LSG darauf hingewiesen, daß der Beginn der Maßnahme iS von § 1241a Abs 1 RVO hier der Beginn der Umschulung des Klägers zum Bürokaufmann - am 2. August 1982 - war, weil jede Rehabilitationsmaßnahme einer gesonderten Entscheidung des Leistungsträgers über ihre Bewilligung bedarf. Von diesem Ausgangspunkt her ergibt sich für den hier zu beurteilenden Fall in bezug auf § 1241a Abs 1 und 2 RVO allerdings, daß der letzte Tag des Bemessungszeitraumes bei Beginn der Maßnahme länger als drei Jahre zurücklag. Nach der Bestimmung des § 1241a Abs 2 RVO folgt daraus, daß das Übergangsgeld - wie hier seitens der Beklagten geschehen - aus 65 vH des auf ein Jahr bezogenen tariflichen oder, wenn es an einer tariflichen Regelung fehlt, des ortsüblichen Arbeitsentgelts zu berechnen ist, das für den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort des Betreuten gilt. Bemessungszeitraum ist dann das tarifliche oder ortsübliche Arbeitsentgelt in dem letzten Kalendermonat vor dem Beginn der Maßnahme. Nach dieser Bestimmung hätte die Beklagte allerdings das streitige Übergangsgeld dem Gesetz entsprechend festgesetzt. Unter Beachtung der von der Revision nicht angegriffenen und damit für den erkennenden Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts besteht indes die im angefochtenen Urteil ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs des Klägers.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in ständiger Rechtsprechung (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 21. Februar 1980 in SozR 2200 § 313 Nr 6 mwN) entschieden, daß aus dem zwischen Versicherten und Versicherungsträger bestehenden Sozialrechtsverhältnis den Versicherungsträger als Nebenpflicht eine Betreuungspflicht trifft. Er hat den Versicherten mit dem Ziel verständnisvoll zu fördern, dessen soziale Rechte möglichst weitgehend zu verwirklichen (vgl Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil -SGB 1- § 2 Abs 2). Dieser Verpflichtung des Versicherungsträgers entspricht im Falle der Verletzung der Betreuungspflicht der Anspruch des Versicherten, sozialversicherungsrechtlich so gestellt zu werden, wie er bei ordnungsgemäßer Betreuung stehen würde. Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist durch die Bestimmungen des SGB nicht beseitigt worden. Darin ist zwar neben der bereits erwähnten Zielvorgabe des § 2 Abs 2 SGB 1 und der Verpflichtung der Leistungsträger zur Aufklärung und Beratung (SGB 1 §§ 13 und 14) der von ihnen Betreuten keine Regelung der Rechtsfolgen einer Verletzung dieser Pflichten enthalten. Der Gesetzgeber hat vielmehr in Kenntnis der Rechtsprechung des BSG diesen Bereich unberührt gelassen und damit die ihm bekannte Rechtsprechung gebilligt.

Nach den Feststellungen des LSG ist hier eine Verletzung der der Beklagten gegenüber dem Kläger obliegenden Betreuungspflicht gegeben. Der Kläger hat nämlich bereits während der - am 28. Juli 1980 beendeten - Heilbehandlungsmaßnahme die Durchführung seiner beruflichen Rehabilitation beantragt. Diese ist ihm aber infolge verzögerlicher Behandlung seines Antrages durch die Beklagte erst im März 1982 gewährt worden. Schon die Weitergabe des Rehabilitationsantrages an das zuständige Arbeitsamt zur Erstellung eines Eingliederungsvorschlages erfolgte erst drei Monate nach Eingang des Antrages. Aber auch die nach den Feststellungen des LSG weitgehend vom Arbeitsamt verursachte, aber von der Beklagten zu vertretende verzögerliche Behandlung des Rehabilitationsantrages insgesamt muß als pflichtwidrige Säumigkeit der Beklagten als Sozialleistungsträger gewertet werden. Deshalb ist die Folgerung des LSG gerechtfertigt, bei pflichtgemäßer Koordinierung der medizinischen und der beruflichen Rehabilitationsmaßnahmen hätte die Berufsförderung bereits vor Ablauf von drei Jahren nach dem Ende des Bemessungszeitraumes (Januar 1979) begonnen, so daß das Übergangsgeld auch während der Berufsförderungsmaßnahme gemäß § 1241a Abs 1 RVO nach dem im Monat Januar 1979 erzielten Lohn zu bemessen gewesen wäre. Insoweit besteht mithin der Anspruch des Klägers auf Herstellung eines der Bemessung des Übergangsgeldes bei pflichtgemäßer Behandlung des Rehabilitationsantrages entsprechenden Zustandes. Sein Begehren auf Bemessung des Übergangsgeldes während der beruflichen Rehabilitation nach dem im Januar 1979 erzielten Lohn ist mithin begründet.

Die Revision der Beklagten konnte daher im Ergebnis keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662216

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