Leitsatz (amtlich)
Zur Berücksichtigung einer Änderung der Rechtsprechung bei einer Neuprüfung auf Grund des RVO § 627.
Leitsatz (redaktionell)
Im Wesen einer höchstrichterlichen Rechtsprechung liegt es, daß die Gerichte bei der Entscheidung der ihnen unterbreiteten Einzelfälle die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze anstreben, an die sich untere Instanzen und Verwaltungsbehörden bei einer künftigen Behandlung gleichartiger Fälle halten können.
Weicht eine oberste Instanz von ihrer Rechtsprechung ab, so kann dies nicht einer Gesetzesänderung gleichgesetzt werden; vielmehr bestehen zwischen Wandel der Rechtsprechung und Gesetzesänderung tiefgreifende Wesensunterschiede.
Die Rechtsprechung will bei Wandlung ihrer Grundsätze das zum Ausdruck bringen, was eigentlich - bei schon früher geläuterter Erkenntnis - bereits in der Vergangenheit gegolten haben sollte. Dies wirkt sich auf den Gerechtigkeitsgehalt auch solcher Verwaltungsakte aus, die in der Vergangenheit auf der Grundlage der später preisgegebenen Rechtsprechungsgrundsätze erteilt wurden und noch vor dem Wandel der Rechtsprechung bindend geworden sind.
Normenkette
RVO § 627 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. März 1965 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Ehemann der Klägerin, der als Inhaber eines Gebäudereinigungsunternehmens bei der Beklagten versicherte E. F. (F.), starb am 1. Februar 1959 an den Verletzungen, die er bei dem Verkehrsunfall vom 27. Januar 1959 erlitten hatten Der vom Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen in dem angefochtenen Urteil vom 23. März 1965 festgestellte Sachverhalt enthält über diesen Unfall folgende Angaben:
"Am 27. Januar 1959 hatte F. mit drei Mitarbeitern in B.-H. bei mehreren Kunden Reinigungsarbeiten ausgeführt. Diese Arbeiten hatten bis etwa 15,30 Uhr gedauert. Im Anschluß an die Arbeit hatten F. und seine Mitarbeiter in B.-H. eine Gaststätte aufgesucht. Nach dem Gaststättenbesuch wollte F. mit seinen Mitarbeitern in seinem Kombiwagen nach W. an der Lippe fahren, um dort in einem Blumengeschäft den Fußboden zu schleifen.
Obwohl dem F. durch amtsgerichtliches Urteil vom 2. Juli 1958 die Fahrerlaubnis auf die Dauer eines Jahres entzogen worden war, und obwohl er infolge des vorher genossenen Alkohols absolut fahruntüchtig war, setzte er sich in B.-H. kurze Zeit nach 16,30 Uhr an das Steuer seines Kombiwagens, um mit seinen Mitarbeitern nach W. zu fahren. Es war sehr nebelig. Die Sichtweite betrug etwa 15 bis 20 m. Nachdem F. etwa 4 km gefahren war, stieß er in der Ortschaft S gegen 16,50 Uhr auf seiner Fahrbahn mit einem Lieferwagen zusammen. Der Fahrer des Lieferwagens hatte unmittelbar vorher einen auf seiner Fahrbahnseite fahrenden Rad- oder Mopedfahrer mit einer Geschwindigkeit von etwa 15 bis 20 km/h überholt. Er war daher auf die linke Fahrbahnseite gekommen, da die Fahrbahn an der Unfallstelle nur etwa 6 m breit ist. F., der ebenfalls wie der Fahrer des Lieferwagens mit Abblendlicht fuhr, hatte unmittelbar vor dem Unfall seine rechte Fahrbahnseite eingehalten. Er fuhr aber nicht scharf rechts. Die Geschwindigkeit des F, betrug. etwa 30 km/h. Die Fahrbahn war an der Unfallstelle vereist. Bei dem Zusammenstoß wurden F., der Fahrer des Lieferwagens und sämtliche anderen Insassen der beiden Fahrzeuge erheblich verletzt. Etwa zwei Stunden nach dem Unfall wurde von F. eine Blutprobe entnommen. Die Untersuchung dieser Blutprobe ergab, daß im Augenblick der Blutentnahme 1,52 %0 Alkohol im Blut enthalten war. Im Augenblick des Unfalls betrug die Blutalkoholkonzentration des F. mindestens 1,7 %0.
Der Fahrer des Lieferwagens ist durch das rechtskräftige Urteil des Schöffengerichts, in Werne vom 30. September 1959 wegen fahrlässiger Tötung des F. in Tateinheit mit fahrlässiger Körper Verletzung verurteilt worden."
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 21. Juli 1959 den Entschädigungsanspruch der Klägerin mit der Begründung ab, durch den zu einem Blutalkoholwert von 1,52 %0 führenden Alkoholgenuß habe F. nach der ständigen Rechtsprechung den betrieblichen Zusammenhang vollständig gelöst.
Die hiergegen mit mehrmonatiger Verspätung erhobene Klage wurde vom Sozialgericht (SG) Münster durch Prozeßurteil vom 20. Oktober 1960 abgewiesen- Auch das LSG erachtete die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als nicht gegeben; es wies die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 24. Oktober 1961 zurück, in dessen Gründen es abschließend erklärte; Der geltend gemachte Anspruch sei sachlich nicht zu prüfen gewesen; es müsse der Klägerin überlassen bleiben, ob sie nach Abschluß des Streitverfahrens bei der Beklagten eine Überprüfung ihrer Ansprüche - etwa unter Hinweis auf die inzwischen gewandelte höchstrichterliche Rechtsprechung zur Frage des Versicherungsschutzes trotz alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit - beantragen wolle. Revision wurde nicht zugelassen.
Den ihr vorn LSG nahegelegten Antrag stelle die Klägerin im "Schreiben an die Beklagte vom 18. November 1961. Die Beklagte lehnte ihn ab und führte zur Begründung im Bescheid vom 12. Dezember 1961 sowie im Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 1962 u.a. aus; Sie habe die nach § 619 der Reichsversicherungsordnung (in der bis zum 30. Juni 1963 geltenden Fassung -RVO aF-) erforderliche Überzeugung, daß sie zu Unrecht Leistungen abgelehnt habe, nicht gewinnen können. Der bindend gewordene Ablehnungsbescheid vom 21. Juli 1959 stimme mit der damals maßgeblichen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) überein.
Ein späterer Wandel der Rechtsprechung gebe keinen Anlaß zu einer erneuten Überprüfung und Bejahung bindend abgelehnter Entschädigungsansprüche; das verbiete die gleiche Behandlung aller Unfallgeschädigten; im übrigen wäre eine ständige Über Prüfung und Anpassung an die neueste Rechtsprechung auch undurchführbar. Für eine Anwendung des §619 RVO aF bleibe hier kein Raum.
Das SG hat die hiergegen erhobene Klage durch Urteil vom 16. August 1962 abgewiesen: Rechtsfrieden und Rechtssicherheit erforderten daß nur solche Entscheidungen durch einen Zugunstenbescheid gemäß § 619 RVO aF berichtigt würden, die sich auch unter Würdigung der zur Zeit ihres Erlasses bestehenden tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse als fehlerhaft erwiesen.
Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide vom 12. Dezember 1961 und 14. Februar 1962 für verpflichtet erklärt, den Unfall des F. vom 27. Januar 1959 als Arbeitsunfall anzuerkennen, der Klägerin die gesetzlichen Bezüge zu gewähren und. auf dieser Grundlage einen neuen Bescheid unter Rücknahme des Bescheids vom 21. Juli 1959 zu erlassen (Urteil vom 23. März 1965): Sowohl nach § 619 RVO aF als auch nach § 627 RVO idF des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG anwendbar gemäß Arte 4 § 2 Abs. 1 UVNG) sei die Beklagte- verpflichtet, ihren Ablehnungsbescheid vom 21. Juli 1959 sachlich unter Berücksichtigung der BSG-Rechtsprechung zur alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit seit dem 30. Juni 1960 (BSG 12, 242) zu überprüfen. Gerade im Sozialversicherungsrecht entspreche es den Geboten der Billigkeit, Rechtsgleichheit und des Rechtsfriedens, bei veränderter Rechtsprechung des BSG in einer Grundsatzfrage alle auf Grund der früheren, nun aufgegebenen BSG-Rechtsprechung ergangenen Ablehnungsbescheide zumindest auf Antrag eines Beteiligten zu überprüfen und gegebenenfalls die Leistung neu festzustellen, Bei der Beratung der Neufassung des § 619 RVO im Bundestags(BTausschuß sei die Einfügung einer dem § Ho Abs. 2 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren in der Kriegsopferversorgung (VerwVG) entsprechenden Vorschrift mit Recht als überflüssig erachtet worden; denn der Versicherungsträger sei schon gemäß § 619 RVO aF und erst recht durch § 627 RVO verpflichtet, die BSG- Entscheidungen laufend au verfolgen und dabei festzustellen in welchen Fällen das BSG später zu einer Rechtsauffassung gelangt sei, die ursprünglich abgelehnte Leistungsansprüche nachträglich begründet erscheinen lasse. Zumindest auf Antrag sei er dann verpflichtet, trotz bindend gewordenen Ablehnungsbescheids eine neue Leistung festzustellen. Der Einwand der Beklagten, es sei praktisch unmöglich, bei veränderter BSG-Rechtsprechung alle alten, auf Grund der aufgegebenen Rechtsprechung erteilten Ablehnungsbescheide zu überprüfen, bedürfe keiner Stellungnahme, da hier ein Antrag der Berechtigten. Vorliege. Ob im Hinblick auf den wortlaut von § 619 RVO aF und § 627 RVO eine Pflicht zur Überprüfung aller Bescheide von Amts wegen bestehe, könne dahingestellt bleiben.
Nach der neuen ständigen Rechtsprechung des BSG könne der Versicherungsschutz für den Unfall des F. auch nicht in Anbetracht des Blutalkoholgehalts von 1,7 %0 verneint werden, da die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des P. nicht die für den Unfall rechtlich allein wesentliche Ursache gewesen sei. Vielmehr habe im wesentlichen der wegen fahrlässiger Tötung verurteilte Fahrer des Lieferwagens durch seine grob verkehrswidrige Fahrweise das Zustandekommen des Unfalls verursacht. Zweifelhaft könne allenfalls nur sein, ob F. in nüchternem Zustand bei dieser Verkehrssituation den Unfall vermieden hätte. Dies sei jedoch zu verneinen; seine Geschwindigkeit sei auch bei Nebel und vereister Fahrbahn nicht überhöht gewesen; wegen der jedem Fahrer zuzubilligenden Schrecksekunde seien auch Versuche, durch Bremsen oder Ausweichen den Zusammenstoß zu vermeiden, von F. nicht zu erwarten gewesen.
Auf Grund des § 557 Abs. 1 und 4 RVO aF könne die Beklagte die Entschädigung keinesfalls versagen, da zwischen dem vorsätzlichen Vergehen - Fahren ohne Fahrerlaubnis - des F. und dem Unfall kein ursächlicher Zusammenhang bestanden habe.
Bei Zugrundelegung der seit dem 30, Juni 1960 feststehenden ständigen BSG- Rechtsprechung habe somit die Beklagte ihre Leistungspflicht im Bescheid vom 21. Juli 1959 offensichtlich zu Unrecht abgelehnt. Hiervon hätte sie sich bei der durch §619 RVO aF gebotenen Überprüfung überzeugen müssen. Für eine andere Überzeugung lasse der Akteninhalt - auch unter Berücksichtigung des der Beklagten eingeräumten Ermessens - bei vernünftiger Beweiswürdigung keinen Raum. Daher sei die Beklagte für verpflichtet zu erklären, einen Arbeitsunfall anzuerkennen und der Klägerin die gesetzlichen Bezüge zu gewähren; im Hinblick auf die eindeutige Sach- und Rechtslage komme nur dies als Ergebnis der Ermessensausübung in Betracht Bas LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 22. Mai 1965 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 4. Juni 1965 Revision eingelegt und sie am 19. Juni 1965 wie folgt begründet; Einer erneuten Überprüfung gemäß §§ 619 RVO aF, 627 RVO stehe schon entgegen, daß der Ablehnungsbescheid vom 21. Juli 1959 durch die rechtskräftigen Urteile des SG vom 20. Oktober 1960 und des LSG vom 24. Oktober 1961 bestätigt worden sei; diese Urteile könnten nur im Wiederaufnahmeverfahren nach § 179 SGG beseitigt werden, dessen Voraussetzungen jedoch nicht gegeben seien. Dabei sei noch besonders bedeutsam, daß das LSG-Urteil vom 24. Oktober 1961 erst nach der Veröffentlichung der gewandelten - vom LSG sogar schon ausdrücklich angeführten - BSG-Rechtsprechung ergangen sei und die Klägerin es damals versäumt habe, eine auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gestützte Revision mit der Begründung einzulegen, es bedeute einen wesentlichen Verfahrensmangel, daß das LSG ihr damaliges Berufungsbegehren nicht auch unter dem Gesichtspunkt des § 619 RVO aF geprüft habe.
Auf keinen Fall hätte das LSG die Beklagte zur Anerkennung eines Arbeitsunfalls und Leistungsgewährung verpflichten dürfen; hiermit habe es dem Ermessen der Beklagten vorgegriffen und ihr die Geltendmachung anderer, etwa jetzt erst zutage getretener Ablehnungsgründe abgeschnitten. Äußerstenfalls hätte das LSG die Beklagte lediglich zur Erteilung eines neuen Bescheids im Rahmen ihres pflichtgemäßen, die Rechtsauffassung des LSG berücksichtigenden Ermessens verurteilen dürfen.
Bei der Anwendung der §§ 619 RVO aF, 627 RVO sei allein von der Gesetzes- und- Rechtsprechungslage im Zeitpunkt des Ablehnungsbescheides vom 21. Juli 1959 auszugehen. Ebensowenig wie nachträgliche - nicht mit Rückwirkung ausgestattete - Gesetzesänderungen können nachträgliche Änderungen %der Rechtsprechung hierbei eine Rolle spielen. Bei der Schaffung des § 619 RVO aF habe man lediglich an neue tatsächliche Feststellungen gedacht. die bei der ersten Ablehnung noch nicht vorgelegen hätten. Die vom Sozialpolitischen BT- Ausschuß (BT-Drucksache IV/938 S. 18) vertretene Auffassung berücksichtige nicht genügend, daß es den Versicherungsträgern technisch völlig unmöglich sei, all ihre. zahllosen Akten über Blutalkoholfälle noch einmal unter Zugrundelegung der geläuterten BSG-Rechtsprechung durchzusehen. Zu Unrecht habe es das LSG insoweit entscheidend auf den Antrag eines Beteiligten abgestellte. Denn das Gesetz schreibe ausdrücklich vor, daß die Berufsgenossenschaften von Amts wegen tätig werden müssen.
Im Hinblick auf den Blutalkoholgehalt von 1,7 %0 und die im Strafurteil festgestellte verkehrswidrige Fahrweise des F. erscheine dessen Trunkenheit so überwiegend als Unfallursache, daß auch nach der neuen BSG-Rechtsprechung der Versicherungsschutz auszuschließen sei; die Mitschuld des verurteilten Lieferwagenfahrers sei demgegenüber nicht ausschlaggebend. Davon abgesehen sei auch eine Versagung des Schadensersatzes auf Grund des § 557 RVO aF gerechtfertigte.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 16. August 1962 zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
Zurückweisung der Revision.
Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 SGG).
II
Die Revision ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG)o Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig.
Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Schon nach der Rechtsprechung zu § 619 RVO aF war diese Vorschrift auch in Fällen anzuwenden, in denen der Ablehnungsbescheid des Versicherungsträgers durch gerichtliches Urteil bestätigt worden war (vgl, BSG 13, 181, 186; 19, 164; s. auch SozR RKG § 93 Nr. 1), Dem von der Revision vertretenen Standpunkt, eine erneute Prüfung gemäß §§ 619 RVO aF, 627 RVO komme im Hinblick auf die den Ablehnungsbescheid vom 21. Juli 1959 bestätigenden rechtskräftigen Urteile des SG vom 20. Oktober 1960 und des LSG vom 24. Oktober 1961 von vornherein nicht in Betracht, kann demgemäß nicht beigepflichtet werden. Daran ändert auch nichts der Umstand, daß die neue Rechtsauffassung des BSG zur Frage des Unfallversicherungsschutzes alkoholbeeinflußter Verkehrsteilnehmer bereits im September 1960 (Veröffentlichung des Urteils vom 30. Juni 1960 in SozR RVO § 542 aF Nr. 27), also über ein Jahr vor dem Berufungsurteil vom 24. Oktober 1961, bekannt geworden war. Auch wenn dieses für das Verfahren nach § 40 Abs. 2 VerwVG auf Grund des Wortlautes jener Vorschrift maßgebende Kriterium (vgl. SozR VerwVG § 4. Nr.5) für den Anwendungsbereich der §§ 619 RVO aF, 627 RVO entsprechend heranzuziehen sein sollte (a.M. Schriefer, SozSich 1964, 111, 113), wäre es im vorliegenden Fall schon deshalb ohne Bedeutung, weil in dem mit dem Berufungsurteil vom 24. Oktober 1961 abgeschlossenen Rechtsstreit vorweg nur die Frage zu entscheiden war, ob der Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzungsgründe entgegenstanden; nach Verneinung dieser Frage war den damals entscheidenden Instanzen eine Stellungnahme zum materiellen Klagbegehren verschlossen; auch die Klägerin wäre seinerzeit nicht in der Lage gewesen, eine Berücksichtigung der neuen BSG-Rechtsprechung mit einer nicht zugelassenen Revision durch Rügen gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zu erzielen.
Das LSG vertritt in den Gründen des angefochtenen Urteils die Auffassung, die Beklagte sei nach §§ 619 RVO aF, 627 RVO verpflichtet zu prüfen, ob sie mit ihrem bindend gewordenen Bescheid vom 21. Juli 1959 in Anbetracht der seither geänderten BSG-Rechtsprechung Leistungen zu Unrecht abgelehnt habe. Die gegen diese Auffassung gerichteten Revisionsangriffe hält der erkennende Senat für unbegründet. Unzutreffend ist schon der Ausgangspunkt dieses Revisionsvorbringens, § 619 RVO aF habe lediglich, die Berücksichtigung neuer, bei der ersten Ablehnung noch nicht verfügbarer tatsächlicher Feststellungen bezweckte Auch Gesichtspunkte rechtlicher Art können vielmehr bei der Prüfung nach § 619 RVO aF durchaus maßgebend sein (vgl. SozR RKG § 93 Nr. 1). Allerdings kommt es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Bescheids vom 21, Juli 1959 auf den in jenem Zeitpunkt gegebenen Rechtszustand an (vgl. BSG- 19, 38, 44). Die Beklagte meint, dieser maßgebende Rechtszustand bestimme sich allein nach der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung (BSG 3, 116), an der unverrückbar auch bei Prüfungen im Rahmen der §§ 619 RVO aF, 627 RVO festzuhalten sei (ebenso Schieke, ZSR 1961, 714; Bereiter Hahn, Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm. 2 zu § 627). Dies steht nach Ansicht des erkennenden Senats mit der Funktion einer höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht in Einklang.
Im Wesen, einer höchstrichterlichen Rechtsprechung liegt es, daß die Gerichte bei der. Entscheidung der ihnen unterbreiteten Einzelfälle die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze anstreben, an die sich untere Instanzen und Verwaltungsbehörden bei der künftigen Behandlung gleichartiger Fälle halten können; diese rechtsentwickelnde Tätigkeit erfolgt oftmals schrittweise (vgl. BVerfG 18, 224, 237, 239). Weicht eine oberste Instanz von ihrer Rechtsprechung ab, so kann dies nicht - wie die Revision (s. auch Lauterbach, Unfallversicherung, 3. Aufl. Anm, 5 zu § 627, S. 714) meint- einer Gesetzesänderung gleichgesetzt werden; vielmehr bestehen zwischen Wandel der Rechtsprechung und Gesetzesänderung tiefgreifende Wesensunterschiede (vgl. BVerwG 17, 256, 260; s. auch BVerfG aaO S. 240), die in den Gründen des angefochtenen Urteils zutreffend erkannt und gewürdigt worden sind. Die Rechtsprechung will bei Wandlung ihrer Grundsätze das zum Ausdruck bringen, was eigentlich - bei schon früher geläuterter Erkenntnis - bereits in der Vergangenheit gegolten haben sollte (BVerwG aaO; s, auch BSG 15, 157, 141; RVA- Bescheid vom 13. August 1940, EuM 47, 44). Dies wirkt sich auf den Gerechtigkeitsgehalt auch solcher Verwaltungsakte aus, die in der Vergangenheit auf der Grundlage der später preisgegebenen Rechtsprechungsgrundsätze erteilt wurden und noch vor dem Wandel der Rechtsprechung bindend geworden sind.
Diese Verwaltungsakte sind damit belastet, daß sie - falls erst nach dem Wandel der Rechtsprechung vom Gericht sachlich entschieden - ohne weiteres unter Zugrundelegung der neuen höchstrichterlichen Erkenntnisse beurteilt worden wären; dadurch kommt hier - im Unterschied zu einer nicht rückwirkenden Gesetzesänderung - dem Zufallsmoment der jeweiligen Verfahrensdauer eine rechtlich unangemessene Bedeutung zu. In der Sozialversicherung - hier insbesondere der Unfallversicherung - hat der Gesetzgeber durch Schaffung der §§ 619 RVO aF, 627 RVO zum Ausdruck gebracht, daß unter derartigen Umständen das Prinzip der Rechtssicherheit hinter dem der materiellen Gerechtigkeit zurücktreten soll, während freilich im allgemeinen Verwaltungsrecht eine umgekehrte Rangfolge gilt (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. März 1966, DÖV 1966, 866). Der Senat gelangt hiernach zu dem Ergebnis, daß eine Änderung der Rechtsprechung bei einer Neuprüfung auf Grund des § 627 RVO - wie auch schon vorher gemäß § 619 RVO aF - zu berücksichtigen ist; der Einfügung einer dem § 40 Abs. 2 VerwVG entsprechenden Vorschrift bedurfte es - wie der BT-Ausschuß für Sozialpolitik mit Recht angenommen hat (vgl. BT-Drucks. IV/938, S. 18) - hierfür nicht (ebenso Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 6. Aufl. 602, 602 a; Knoll/Schieckel, RVO-Gesamtkommentar, Anm. 2 zu § 627; Miesbach/Baumer, Die gesetzliche Unfallversicherung, Anm. 2 zu § 627; Etmer, Unfallversicherung, Anm. 2 zu § 627; Schroeder-Printzen, SozSich 1963, 232, 237; Schriefer, aaO, S. 112; unter Darlegung starker Bedenken im Ergebnis auch Lauterbach aaO).
Es muß sich freilich um einen Wandel der Rechtsprechung handeln. In den Fassungen des § 40 Abs. 2 VerwVG vor und nach Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 ist dieses Erfordernis zunächst mit dem Begriff Entscheidung von grundsätzlicher Bedeutung", alsdann mit dem der "ständigen Rechtsprechung" näher charakterisiert worden. Nach Meinung des erkennenden Senats braucht anläßlich des hier zu entscheidenden Rechtsstreits auf das Für und Wider dieser Umschreibungsversuche (vgl. Schriefer aaO) nicht näher eingegangen zu werden. Im vorliegenden Fall führen beide Abgrenzungsmaßstäbe zum gleichen Ergebnis; der Frage des Versicherungsschutzes bei alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit kommt ganz zweifelsfrei grundsätzliche Bedeutung (vgl. BSG- 15, 17) zu, im Hinblick auf die seit dem 30. Juni 1960 angefallene Judikatur (BSG 12, 242; 18, 101 und zahlreiche sonstige Entscheidungen) kann auch ohne weiteres von einer ständigen Rechtsprechung gesprochen werden, welche sich betont von den vorher (BSG 3. 116) praktizierten Erkenntnissen abhebt. Wichtig erscheint dem Senat indessen der Hinweis, daß in den Anwendungsbereich des § 627 RVO unter keinen Umständen jene Fälle gehören, in denen - bedingt durch die starke Tatbestandsbezogenheit, welche die Streitfälle der Unfallversicherung kennzeichnet - die Rechtsprechung unvermeidlich zu Akzentverschiebungen gedrängt wird, mit denen sie Besonderheiten des Einzelfalles gerecht zu werden versucht, ohne jedoch grundsätzliche Erkenntnisse preiszugeben (vgl. etwa aus jüngster Zeit die Fehlinterpretation von SozR Nr. 57 zu § 542 RVO aF durch das LSG Hamburg, Breith, 1965, 201; hierzu klarstellend SozR RVO § 548 Nr.3). Solche Nuancierungen einem durchgreifenden Wandel der Rechtsprechung gleichzusetzen, könnte allerdings für die Versicherungsträger bei der Handhabung des § 627 RVO das von Schieke (aaO) befürchtete Verwaltungschaos bedeuten. Bei einer Beschränkung auf Rechtsprechungsänderungen in dem oben gekennzeichneten Sinn erscheint diese Befürchtung aber gegenstandslos, zumal da den Versicherungsträgem durchaus zuzubilligen ist, daß sie in ihnen nicht ohne weiteres bekannten Fallen Anträge der Berechtigten abwarten können (vgl. Schroeder-Printzen, aaO, S. 237, 238; Schriefer, aaO, S. 113).
Bei der hiernach mit Recht vorgenommenen Überprüfung des Ablehnungsbescheides vom 21. Juli 1959 unter Zugrundelegung der gewandelten BSG-Rechtsprechung (insbesondere BSG 12, 242; 18, 101) ist das LSG zu dem Ergebnis gelangt, der Versicherungsschutz sei zu Unrecht verneint worden, da die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit des F. nicht die für den Unfall rechtlich allein wesentliche Ursache gewesen sei. Die Revisionsangriffe gegen die vom LSG- hierfür angeführten Erwägungen sind unbegründet; das LSG hat mit Recht dem Fehlverhalten des Lieferwagenfahrers überragende Bedeutung für das Zustandekommen des Unfalls beigemessen. Daß auch die Voraussetzungen einer Anwendung des § 557 RVO aF nicht erfüllt sind, bedarf keiner näheren Darlegung (vgl. SozR RVO § 557 aF Nr. 1).
Das LSG hat die im angefochtenen Urteil ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten zur Leistungsgewährung damit begründet, daß die Bildung einer anderen Überzeugung angesichts der eindeutigen Sach- und Rechtslage nicht in Betracht komme. Dies überschreitet nicht den Rahmen der den Gerichten bei § 627 RVO zugewiesenen Ermessensnachprüfung (vgl. Lauterbach, aaO, Anm. 2 zu § 627; s.auch BSG 7, 46, 49; 15, 137; a.M. Miesbach/Baumer, aaO, Anm. 4a zu § 627); das hiergegen gerichtete Revisionsvorbringen läßt überdies nicht einmal erkennen, welche etwa jetzt erst zutage tretenden Ablehnungsgründe die Beklagte bei ihrer erneuten Prüfung noch vorbringen könnte.
Die Revision muß hiernach als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 89 |
NJW 1967, 2079 |
MDR 1967, 787 |