Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiserleichterung im Opferentschädigungsrecht. Beweiserhebung des Gerichts. Beweisnot des Geschädigten. Anscheinsbeweis. objektive Beweislast. Nachweis äußerer Gewalteinwirkung
Leitsatz (amtlich)
Die für Kriegsopfer geschaffene Beweiserleichterung nach § 15 KOVVfG gilt auch für Gewaltopfer.
Orientierungssatz
1. Kann ein Täter nicht ermittelt werden, rechtfertigt dies keine generelle Beweiserleichterung, etwa durch die Annahme der Voraussetzungen des sogenannten Anscheinsbeweises oder durch geringere Anforderungen an die Beweiskraft.
2. Zur Frage, ob ein Knochenbruch auf Sturz oder äußerer Gewalteinwirkung beruht, reicht es für eine erschöpfende Beweiserhebung des Tatsachengerichts nicht aus, daß allein die von den medizinischen Sachverständigen aus einer ärztlichen Diagnose gezogenen Schlußfolgerungen für die die Entscheidung tragenden Feststellungen herangezogen werden, wenn nach dem Vorfall gefertigte Röntgenaufnahmen vorhanden sind. Diese sind vielmehr in das Beweisverfahren auch dann einzubeziehen und auszuwerten, soweit nach den übernommenen ärztlichen Diagnosen erhebliche Weichteilverletzungen nicht vorgelegen haben.
3. Auf dem Gebiet der Entschädigung für Opfer von Gewalttaten gilt ebenso wie allgemein im Versorgungsrecht, daß der schädigende Vorgang nicht nur wahrscheinlich, sondern nachgewiesen sein muß. Falls es daran fehlt, geht das nach den Grundsätzen der objektiven Beweis- oder Feststellungslast zu Lasten des Klägers.
Normenkette
OEG § 1 Abs 1; KOVVfG § 15 Abs 1; OEG § 6 Abs 3; SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 14.04.1988; Aktenzeichen L 8 Vg 1/87) |
SG Osnabrück (Entscheidung vom 30.09.1986; Aktenzeichen S 7 Vg 83/84) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz -OEG-) vom 11. Mai 1976 (BGBl I S 1181). Er behauptet, am 12. Februar 1983 von zwei unbekannten Personen nach dem Verlassen einer Gaststätte überfallen und niedergeschlagen worden zu sein, wodurch er sich den Unterschenkelbruch zugezogen habe, der zur Amputation des Unterschenkels geführt hat.
Der im Dezember 1983 gestellte Antrag auf Versorgung wurde von der Versorgungsverwaltung abgelehnt, weil ein tätlicher Angriff nicht nachgewiesen sei.
Das Sozialgericht (SG) hat im nachfolgenden Rechtsstreit nach Anhörung des Klägers und Vernehmung von Zeugen die Klage abgewiesen (Urteil vom 30. September 1986). Die Berufung des Klägers wurde ohne weitere Beweisaufnahme zurückgewiesen. In seinem Urteil vom 14. April 1988 hat das Landessozialgericht (LSG) ausgeführt: Entschädigung nach dem OEG könne nur gewährt werden, wenn der schädigende Vorgang bewiesen sei. Eine bloße Wahrscheinlichkeit reiche nicht aus. Nach den gesamten Umständen und dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme lasse sich nicht feststellen, daß der Kläger Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen und tätlichen Angriffs geworden sei. Wenn auch davon auszugehen sei, daß er bereits in der Gaststätte von zwei männlichen Personen belästigt und tätlich angegriffen worden sei, beweise das nicht, daß er nach dem Verlassen der Gaststätte von diesen Personen auf der Straße erneut angegriffen worden sei. Die Zeugin, die den Kläger auf der Fahrbahn liegend aufgefunden habe, habe keine verdächtigen Personen im Umkreis bemerkt. Außer der Beinverletzung seien keine Folgen einer Gewalteinwirkung bei dem Kläger festgestellt worden. Die Beinverletzung selbst könne ebenfalls nicht durch unmittelbare Gewalteinwirkung verursacht worden sein, da anderenfalls erhebliche äußere Weichteilverletzungen hätten vorliegen müssen. Nach den Ausführungen der ärztlichen Sachverständigen im Verwaltungsverfahren und im erstinstanzlichen Verfahren könne die Verletzung des Klägers ohne weiteres auch auf einen gewöhnlichen Sturz ohne fremde Gewalteinwirkung zurückzuführen sein. Dem Beweisantrag des Klägers, ein erneutes Sachverständigengutachten unter Auswertung der nach dem Unfall gefertigten Röntgenaufnahmen zum Nachweis dafür einzuholen, daß die eingetretene Verletzung nicht auf einen gewöhnlichen Sturz, sondern auf Gewalteinwirkung zurückzuführen sei, brauche nicht nachgegangen zu werden, weil diese der allgemeinen Lebenserfahrung widersprechende Behauptung bereits durch die überzeugende Beurteilung des Sachverständigen Dr. M. widerlegt worden sei. Auch auf die übrigen Beweisanträge, mit denen der Kläger nachweisen wolle, daß die im Antrag auf Entschädigung enthaltene Angabe, er sei mit einer Eisenstange geschlagen worden, auf einen postoperativen Verwirrtheitszustand zurückgeführt werden müsse, komme es nicht an.
Dagegen richtet sich die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision des Klägers. Er rügt eine unzureichende gerichtliche Sachverhaltsaufklärung und eine fehlerhafte Beweiswürdigung der Vorinstanz.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. April 1988 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Beweisaufnahme an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Beklagte stellt im Revisionsverfahren keinen Antrag.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Der Rechtsstreit ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen. Die getroffenen Tatsachenfeststellungen reichen nicht aus, um in der Sache selbst zu entscheiden (§ 170 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Soweit in dem angefochtenen Urteil tatsächliche Feststellungen getroffen worden sind, hat der Kläger zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht (§ 163 SGG).
Zutreffend ist allerdings das LSG davon ausgegangen, daß wie im Versorgungsrecht allgemein auch auf dem Gebiet der Entschädigung für Opfer von Gewalttaten der schädigende Vorgang nicht nur wahrscheinlich, sondern nachgewiesen sein muß. Falls es daran fehlt, geht das zu Lasten des Klägers (objektive Beweis- oder Feststellungslast; vgl dazu zuletzt Urteil des Senats vom 22. Juni 1988 - BSGE 63, 270 ff = SozR 1500 § 128 Nr 34 mwN; ferner Beschluß vom 22. Juni 1988 - SozR 1500 § 128 Nr 35). Insbesondere die Tatsache, daß ein Täter nicht ermittelt werden kann, rechtfertigt keine generelle Beweiserleichterung, etwa durch eine stets gebotene Annahme der Voraussetzungen des sog Anscheinsbeweises oder durch geringere Anforderungen an die Beweiskraft. Der Gesetzgeber hat aber den Beweisschwierigkeiten, die typischerweise in der sozialen Entschädigung vorkommen, durch begrenzte Regeln zugunsten des Geschädigten entsprochen. Das hat das LSG nicht hinreichend berücksichtigt.
Nach § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung - KOVVfg - (idF vom 6. Mai 1976 -BGBl I 1169/Art II § 16 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - -SGB 10 vom 18. August 1980 - BGBl I 1469, 1980 -) sind im Kriegsopferrecht und deshalb auch für die Entschädigung nach dem OEG (§ 6 Abs 3 OEG) die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind, soweit nach den Umständen des Falles die Angaben glaubhaft erscheinen. Diese besondere Beweiserleichterung ist auch im Falle des Klägers zu beachten, weil er sich ohne sein Verschulden in Beweisnot befindet.
Zwar wollte § 15 KOVVfg ursprünglich nur der Beweisnot Rechnung tragen, in der sich Antragsteller häufig befanden, weil sie durch die besonderen Kriegsverhältnisse (Luftangriffe, Vertreibung usw) die über sie geführten Krankengeschichten, Befundberichte usw nicht mehr erlangen konnten (vgl Vorberg-van Nuis, Das Recht der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen, VIII. Teil, 2. Aufl 1973, S 125). Solche Unterlagen hat die Versorgungsverwaltung zum Nachweis der Schädigung im allgemeinen für ausreichend gehalten, also ohne daß es noch der Anhörung von Auskunftspersonen, dh Zeugen (§ 12 Abs 1 KOVVfg) bedurft hätte. Das bedeutet aber nicht, daß § 15 KOVVfg nur in solchen Fällen anzuwenden ist, in denen normalerweise Unterlagen vorhanden sind, die glaubhaften Angaben des Antragstellers also nur das Fehlen von Unterlagen, nicht aber das Fehlen von Zeugen ersetzen können. Für eine solche Einschränkung gibt es keine Rechtfertigung. Vielmehr kann die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfg überhaupt erst zum Tragen kommen, wenn weder Unterlagen noch sonstige Beweismittel zu beschaffen sind (vgl auch Nrn 1 und 2 der Verwaltungsvorschriften zu § 15 KOVVfg). Die Beweisnot kann also auch allein darin liegen, daß für den schädigenden Vorgang keine Zeugen und deshalb keine Unterlagen vorhanden sind.
Die Beweisnot, in der sich häufig Kriegsopfer befinden, trifft aber neuerdings auch Verbrechensopfer, wenn auch in anderer Form. Diese beruht im wesentlichen darauf, daß die Tat ohne Zeugen geschieht und sich der Täter seiner Feststellung entzieht. Mit der Verweisung in § 6 Abs 3 OEG auf das KOVVfg hat der Gesetzgeber auch dieser Beweisnot Rechnung tragen wollen.
Die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfg gilt aber nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch im gerichtlichen Verfahren. Sie regelt nicht nur das Verfahren der Verwaltung, sondern enthält materielles Beweisrecht. Das hat das LSG übersehen. Es hat gemeint, die eigenen Angaben des Klägers nicht als Beweismittel berücksichtigen zu dürfen, und damit die Grenzen der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) verkannt. Anderenfalls hätte es sich mit der noch am Ort des Geschehens gegebenen und jedenfalls im Kerngeschehen konstanten Darstellung des Klägers auseinandersetzen müssen, daß er von denselben Personen überfallen und niedergeschlagen worden sei, mit denen bereits zuvor in der Gaststätte ein Streit entstanden war. Dem Kläger hätte insbesondere in der mündlichen Verhandlung Gelegenheit gegeben werden müssen, die Zweifel an seiner Darstellung auszuräumen. Zugleich hätte sich das LSG den für eine erschöpfende Beweiswürdigung hier unverzichtbaren persönlichen Eindruck von dem Kläger verschaffen können.
Ob die Angaben des Klägers über den schädigenden Vorgang "nach den Umständen" glaubhaft sind, kann erst nach Aufklärung und Würdigung aller objektiven Tatsachen beurteilt werden, die für oder gegen einen tätlichen Angriff sprechen.
Auf solche Tatsachen, die das Gericht zur weiteren Beweiserhebung verpflichteten (§ 103 SGG), hat der Kläger hingewiesen. So hat er durch den Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens ausdrücklich unter Beweis gestellt, daß die Art der Fraktur des Unterschenkels nur durch äußere Gewalteinwirkung eingetreten sein kann. Das LSG durfte diesen Beweisantrag nicht im Hinblick auf die bereits vorhandenen Gutachten ablehnen. Denn keiner der beiden zuvor gehörten Sachverständigen hat die nach dem Vorfall angefertigten Röntgenaufnahmen gesehen und ausgewertet. Diese Sachverständigen haben ihre Schlußfolgerungen lediglich aus der ihnen mitgeteilten ärztlichen Diagnose über die Art des Bruches gezogen. Es mag zwar sein, daß Knochenbrüche dieser Art auch nach gewöhnlichen Stürzen ohne Gewalteinwirkung festzustellen sind. Das schließt aber nicht aus, daß gleichwohl im Falle des Klägers die Auswertung der Röntgenaufnahme weitergehende Schlüsse zuläßt als die Übernahme einer Diagnose eines anderen Arztes.
Das LSG wird nunmehr den Sachverhalt weiter aufzuklären und erneut zu würdigen und auch über die Kosten des Revisionsverfahrens abschließend zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1658499 |
BSGE, 123 |