Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Fristversäumnis wegen Urlaubsabwesenheit
Leitsatz (redaktionell)
- Urlaubsabwesenheit in der allgemeinen Ferienzeit ist ein ausgesprochen naheliegender, der Lebenserfahrung entsprechender Sachverhalt, zu dessen Glaubhaftmachung die schlichte Erklärung des Antragstellers genügen kann.
- Die auf Urlaubsabwesenheit im Zeitpunkt der Zustellung beruhende Unkenntnis darf nicht schon dann als verschuldet gewertet werden, wenn der über eine ständige Wohnung verfügende Empfänger vor Antritt des Urlaubs keine besonderen Vorkehrungen wegen möglicher Zustellungen getroffen hat.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; StPO §§ 44, 45 Abs. 1 Fassung: 1968-05-24; OWiG 1968 § 52
Verfahrensgang
LG Göttingen (Beschluss vom 25.11.1974; Aktenzeichen 11 Qs (OWi) 461/74) |
AG Göttingen (Beschluss vom 18.09.1974; Aktenzeichen 3 c OWi 450/74) |
Gründe
A.
I.
1. Der Oberkreisdirektor des Landkreises Göttingen erließ gegen den Beschwerdeführer am 28. Juni 1974 einen Bußgeldbescheid über 800 DM wegen Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr. Der Bußgeldbescheid wurde am 31. Juli 1974 durch Niederlegung bei der Postanstalt zugestellt. Mit einer am 16. August 1974 bei der Verwaltungsbehörde eingegangenen Schrift legte der Beschwerdeführer Einspruch ein und trug vor, wegen urlaubsbedingter Abwesenheit habe er erst am 13. August 1974 Kenntnis von der Zustellung erlangt.
Durch eine am 30. August 1974 zugestellte Verfügung forderte das Amtsgericht Göttingen den Beschwerdeführer auf, innerhalb einer Woche glaubhaft zu machen, ob er durch ein unabwendbares Ereignis an der Einhaltung der Einspruchsfrist gehindert worden sei. Mit einem am 6. September 1974 datierten, am 9. September 1974 eingegangenen Schreiben erwiderte der Beschwerdeführer, da die maßgeblichen Herren, die seinen Urlaub zur fraglichen Zeit bestätigen könnten, derzeit selbst urlaubsabwesend seien, könne er die Bestätigung erst im Laufe der nächsten Woche beibringen. Am 13. September 1974 ging eine schriftliche Bestätigung des Arbeitgebers ein, wonach der Beschwerdeführer in der Zeit vom 15. Juli bis einschließlich 11. August 1974 in Urlaub gewesen sei.
Durch Beschluß vom 18. September 1974 verwarf das Amtsgericht den verspäteten Einspruch als unzulässig und führte weiter aus, Wiedereinsetzungsgründe habe der Beschwerdeführer nicht glaubhaft gemacht; seine Angabe, er sei zur Zeit der Zustellung in Urlaub gewesen, enthalte keinen Hinweis darauf, daß er durch Naturereignisse oder durch unabwendbaren Zufall an der Einhaltung der Einspruchsfrist gehindert worden sei.
2. Mit der sofortigen Beschwerde machte der Beschwerdeführer geltend, er habe seinen Urlaub im Ausland verbracht.
Am 25. November 1974 verwarf das Landgericht Göttingen das Rechtsmittel als unbegründet. Das als Wiedereinsetzungsgesuch anzusehende Schreiben des Beschwerdeführers vom 6. September 1974 sei verspätet, weil es die durch das Belehrungsschreiben des Amtsgerichts am 30. August 1974 in Lauf gesetzte Wochenfrist des § 45 StPO nicht gewahrt habe, ganz abgesehen von der zusätzlichen Verspätung der Glaubhaftmachung. Daher komme es nicht darauf an, ob der angeführte Versäumungsgrund als unabwendbarer Zufall im Sinne von § 44 StPO (a.F.) angesehen werden könne.
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer unter Wiederholung seines tatsächlichen Vortrags im Ausgangsverfahren die Verletzung der Art. 19 Abs. 4 und 103 Abs. 1 GG. Schon in der Einspruchsschrift habe er einen außerordentlich naheliegenden Versäumungsgrund, nämlich Urlaubsabwesenheit in der allgemeinen Ferienzeit, vorgetragen. Daher überspanne bereits das Verlangen besonderer Glaubhaftmachung die Anforderungen an die Erlangung des rechtlichen Gehörs. Zumindest aber hätte berücksichtigt werden müssen, daß ihm – wiederum aus Urlaubsgründen – die Glaubhaftmachung zu einem früheren Zeitpunkt unmöglich gewesen sei.
III.
Der Niedersächsische Minister der Justiz, dem Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist, hat von einer Stellungnahme abgesehen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
1. Der von einem Bußgeldbescheid der Verwaltungsbehörde Betroffene kann sein in Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistetes Recht, gegen diesen ihn belastenden Akt der öffentlichen Gewalt ein Gericht anzurufen, nur durch den befristeten Einspruch wahrnehmen. Bei unverschuldeter Versäumung der Einspruchsfrist hängt die Verwirklichung der Rechtsweggarantie davon ab, daß ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Fristversäumung gewährt wird. Zugleich eröffnet ihm nur die Wiedereinsetzung die Möglichkeit, das durch Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte rechtliche Gehör in der Sache selbst zu erlangen. In diesem Fall des “ersten Zugangs” zum Gericht dient also die Wiedereinsetzung unmittelbar der Wahrung verfassungsrechtlicher Rechtsschutzgarantien. Daher verbietet sich bei der Anwendung und Auslegung der diesen Rechtsbehelf regelnden verfahrensrechtlichen Vorschriften eine Überspannung der Anforderungen daran, welche Vorkehrungen der Betroffene gegen eine etwa drohende Fristversäumung getroffen und was er nach eingetretener Versäumung veranlaßt und vorgetragen haben muß, um Wiedereinsetzung zu erlangen. Dieser in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts für die summarischen Bußgeldverfahren und Strafbefehlsverfahren seit langem gefestigte Grundsatz (BVerfGE 38, 35 [38 f.] mit weiteren Nachweisen) wird in den angegriffenen Beschlüssen außer acht gelassen.
2. Das Landgericht stellt nur auf das Schreiben des Beschwerdeführers vom 6. September 1974 ab und leitet aus dessen verspätetem Eingang die Unzulässigkeit des Wiedereinsetzungsgesuchs her. Dieses Schreiben ist aber überhaupt kein Gesuch im Sinne des § 45 StPO; es besagt lediglich, daß die vom Amtsgericht geforderte Glaubhaftmachung derzeit nicht möglich sei. Dagegen war der maßgebliche Versäumungsgrund, nämlich die urlaubsbedingte Unkenntnis von der Zustellung des Bußgeldbescheids bis über den Ablauf der Einspruchsfrist hinaus, bereits in der Einspruchsschrift vorgetragen worden. Daß demnach schon diese Schrift zugleich ein Wiedereinsetzungsgesuch mit hinreichender “Angabe der Versäumungsgründe” im Sinne des § 45 Abs. 1 StPO in Verbindung mit § 52 OWiG enthielt, wird vom Landgericht erkennbar gar nicht in Erwägung gezogen. Schon darin liegt ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG (BVerfGE 37, 93 [97]).
3. Demgegenüber entnimmt das Amtsgericht zwar zutreffend der Einspruchsschrift zugleich ein Wiedereinsetzungsgesuch. Dessen Verwerfung hält jedoch der verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Die äußerst knappe Begründung läßt nicht eindeutig erkennen, ob das Amtsgericht das Gesuch mangels Glaubhaftmachung als unzulässig ansieht oder ob es der Auffassung ist, der geltend gemachte Versäumungsgrund rechtfertige die Wiedereinsetzung nicht. In beiden Fällen wären Bedeutung und Tragweite der Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG verkannt.
a) Die vom Beschwerdeführer behauptete Urlaubsabwesenheit in der allgemeinen Ferienzeit ist ein ausgesprochen naheliegender, der Lebenserfahrung entsprechender Sachverhalt. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß in einem solchen Fall zur Glaubhaftmachung, deren Mittel in der Strafprozeßordnung und im Gesetz über Ordnungswidrigkeiten ohnehin nicht bezeichnet sind, die schlichte Erklärung des Antragstellers genügen kann (BVerfGE 26, 315 [320]; 37, 93 [98]; 37, 100 [103]; 38, 35 [39]). Der angegriffene Beschluß gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß das Amtsgericht begründete Zweifel an der Wahrscheinlichkeit des vorgetragenen Versäumungsgrundes hatte. Dann bedeutet aber die Forderung weiterer Glaubhaftmachung eine Überspannung (BVerfGE 37, 100 [103]), und es darf demgemäß dem Beschwerdeführer nicht angelastet werden, daß die gleichwohl beigebrachte Bestätigung des Arbeitgebers verspätet sei (BVerfGE 38, 35 [39 f.]). Vielmehr hätte die seit dem 13. September 1974 vorliegende Bestätigung bei der Entscheidung des Amtsgerichts über die Begründetheit des jedenfalls zulässigen Wiedereinsetzungsgesuchs berücksichtigt werden müssen (BVerfGE 37, 93 [99]).
b) Gemäß § 44 Satz 2 StPO – in der hier maßgeblichen, bis zum 31. Dezember 1974 gültigen Fassung – war es als ein die Wiedereinsetzung begründender unabwendbarer Zufall anzusehen, wenn der Antragsteller von einer Zustellung ohne sein Verschulden keine Kenntnis erlangt hatte. Daß die auf Urlaubsabwesenheit im Zeitpunkt der Zustellung beruhende Unkenntnis nicht schon dann als verschuldet gewertet werden darf, wenn der über eine ständige Wohnung verfügende Empfänger vor Antritt des Urlaubs keine besonderen Vorkehrungen wegen möglicher Zustellungen getroffen hat, ist vom Bundesverfassungsgericht ebenfalls schon mehrfach ausgesprochen worden (BVerfGE 25, 158 [166]; 26, 315 [319]; 34, 154 [156]; 35, 296 [298]; 37, 100 [102]). Es läßt sich zumindest nicht ausschließen, daß das Amtsgericht diesen gemäß § 31 BVerfGG bindenden Grundsatz (Beschluß vom 10. Juni 1975 – 2 BvR 1018/74) nicht beachtet hat.
4. Da die angegriffenen Entscheidungen auf Verletzungen der Art. 19 Abs. 4, 103 Abs. 1 GG beruhen können, sind sie aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Gericht erster Instanz zurückzuverweisen.
Das Land Niedersachsen, dem die erfolgreich gerügte Grundrechtsverletzung zuzurechnen ist, hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten (§ 34 Abs 4 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Fundstellen
Haufe-Index 1677230 |
BVerfGE, 182 |
JZ 1975, 571 |