Verfahrensgang
SG München (Beschluss vom 07.12.2012; Aktenzeichen S 3 SF 904/12 ERI RG) |
SG München (Beschluss vom 15.11.2012; Aktenzeichen S 3 SF 735/12 ERI) |
Tenor
1. Der Beschluss des Sozialgerichts München vom 15. November 2012 – S 3 SF 735/12 ERI – verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Grundrechten aus Artikel 3 Absatz 1 und Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes.
2. Der Beschluss des Sozialgerichts München vom 15. November 2012 – S 3 SF 735/12 ERI – wird aufgehoben. Damit erledigt sich der Beschluss des Sozialgerichts München vom 7. Dezember 2012 – S 3 SF 904/12 ERI RG –. Die Sache wird an das Sozialgericht München zurückverwiesen.
3. Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin ihre notwendigen Auslagen zu erstatten.
Tatbestand
A.
Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen ihre Enthebung aus dem Amt als ehrenamtliche Richterin beim Sozialgericht München.
I.
Die Beschwerdeführerin war als ehrenamtliche Richterin am Sozialgericht den Kammern für Streitsachen in Angelegenheiten der gesetzlichen Rentenversicherung zugeteilt. Sie führte zugleich in eigener Sache einen Rechtsstreit vor dem Sozialgericht München gegen die Deutsche Rentenversicherung Bund wegen der Anrechnung von Dienstzeiten. Eine frühere Klage in gleicher Sache hatte sie zurückgenommen. In dem erneut anhängig gemachten Verfahren beantragte die Beschwerdeführerin, den Rechtsstreit auf die für die zurückgenommene Klage zuständige Kammer zu übertragen. Das Sozialgericht lehnte den Antrag mit Hinweis auf den Geschäftsverteilungsplan ab. Das dagegen gerichtete Befangenheitsgesuch der Beschwerdeführerin lehnte das Sozialgericht ebenfalls ab. Zur Begründung führte es unter anderem aus, das Ansinnen, eine andere Kammer zur Bearbeitung des Rechtsstreits zu erhalten, widerspreche dem Grundsatz des gesetzlichen Richters. Weil die Beschwerdeführerin Gerichtsperson sei, wiege die in ihrem Vorbringen zutage tretende Missachtung des Grundgesetzes und der Bayerischen Verfassung schwer.
Das Sozialgericht München enthob die Beschwerdeführerin in der Folge ihres Amtes als ehrenamtliche Richterin. Sie habe ihre Amtspflichten gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 SGG grob verletzt. Ehrenamtliche Richter unterlägen der Pflicht zur Verfassungstreue und dürften nur unter den gesetzlichen Voraussetzungen des SGG tätig werden. Die von der Beschwerdeführerin geäußerten Zuständigkeitsbedenken hätten auch durch gerichtliche Entscheidungen unter Hinweis auf das Grundgesetz und die Bayerische Verfassung nicht ausgeräumt werden können. Daher erscheine ihr weiteres Tätigwerden als ehrenamtliche Richterin beim Sozialgericht nicht möglich.
Die Anhörungsrüge der Beschwerdeführerin wies das Sozialgericht zurück. Der Beschwerdeführerin sei eine Tätigkeit in einem aus ihrer Sicht durch Gesetzesverstöße gekennzeichneten Bereich nicht zuzumuten, zumal diese Verstöße nur von ihr gesehen würden. Darin liege eine grobe Verletzung der Amtspflichten.
II.
Die Beschwerdeführerin rügt mit ihrer gegen die Amtsenthebung und die Zurückweisung der Anhörungsrüge gerichteten Verfassungsbeschwerde unter anderem die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG sowie des Willkürverbots (Art. 3 Abs. 1
GG). Das Sozialgericht habe ihr nicht einen konkreten Verstoß oder eine konkrete Äußerung vorgehalten, sondern lediglich pauschal unterstellt, dass sie das Grundgesetz und die Bayerische Verfassung schwer missachtet habe. Ihr Vorbringen habe es nicht zur Kenntnis genommen. Die Entscheidungen verletzten ferner das Willkürverbot, da sie vernünftige, sachliche Gründe nicht erkennen ließen. Die pauschale Behauptung ihrer Verfassungsuntreue sei nicht nachvollziehbar. Eine in einem Verfahren in eigener Sache geäußerte Rechtsansicht könne einen Verstoß gegen Amtspflichten oder gar eine Verletzung der Pflicht zur Verfassungstreue nicht begründen.
III.
Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen hat mit Schriftsatz vom 25. Juni 2013 Stellung genommen: Zwar seien auch ehrenamtliche Richter im Sinne von Art. 97 GG unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen; ein Anspruch auf die Berufung zum ehrenamtlichen Richter bestehe indes nicht. Die angegriffenen Beschlüsse verletzten die Beschwerdeführerin nicht in ihren von der Verfassung geschützten Rechten.
Entscheidungsgründe
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zur Entscheidung anzunehmen, weil dies zur Durchsetzung der Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der Verfassungsbeschwerde ist von der Kammer stattzugeben, da die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen vom Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde zulässig und offensichtlich begründet ist (§ 93b Satz 1 in Verbindung mit § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
I.
Die Entscheidung des Sozialgerichts München über die Amtsenthebung verletzt die Beschwerdeführerin in ihren Rechten aus Art. 3 Abs. 1 GG (1.) und Art. 103 Abs. 1 GG (2.).
1. a) Die Auslegung des Gesetzes und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind Sache der dafür zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht im Allgemeinen entzogen (BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫; 70, 93 ≪97≫; stRspr). Ein verfassungsgerichtliches Eingreifen unter dem Gesichtspunkt der Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot kommt daher nicht bei jedem Fehler in der Rechtsanwendung, sondern nur in seltenen Ausnahmefällen in Betracht (BVerfGE 62, 189 ≪192≫; 70, 93 ≪97≫). Selbst eine zweifelsfrei fehlerhafte Gesetzesanwendung begründet noch keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Hinzukommen muss vielmehr, dass die fehlerhafte Rechtsanwendung unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist (vgl. BVerfGE 69, 248 ≪254≫; 74, 102 ≪127≫; 83, 82 ≪84≫; stRspr). Willkür liegt erst vor, wenn eine offensichtlich einschlägige Norm nicht berücksichtigt oder der Inhalt einer Norm in krasser Weise missdeutet wird. Von willkürlicher Missdeutung kann dagegen nicht gesprochen werden, wenn das Gericht sich mit der Rechtslage eingehend auseinandersetzt und seine Auffassung nicht jedes sachlichen Grundes entbehrt (BVerfGE 87, 273 ≪278 f.≫; 96, 189 ≪302≫; BVerfGK 16, 245 ≪248≫).
b) Das Sozialgericht hat das Merkmal der groben Amtspflichtverletzung in § 22 Abs. 1 Satz 2 SGG in krasser Weise missdeutet.
aa) Die für die Amtsenthebung eines ehrenamtlichen Sozialrichters gemäß § 22 Abs. 1 Satz 2 SGG erforderliche grobe Amtspflichtverletzung liegt grundsätzlich nur bei einer schwerwiegenden Zuwiderhandlung gegen die Pflichten eines ehrenamtlichen Richters vor (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 22 Rn. 7; für den insoweit vergleichbaren § 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Februar 2008 – 4 E 3.08 –, NVwZ-RR 2008, S. 846; Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 24 Rn. 5 f.). Außerdienstliches Verhalten des ehrenamtlichen Richters kann nur dann als grobe Amtspflichtverletzung angesehen werden, wenn dadurch das Vertrauen in die Integrität des Richters erschüttert wird (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/ Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 22 Rn. 7; Peters/Sauer/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl. 2011, § 22 Rn. 17). Das gilt etwa dann, wenn der ehrenamtliche Richter gegen seine Pflicht zur besonderen Verfassungstreue verstößt, indem er aus einer der Verfassung widersprechenden Überzeugung Folgerungen für seine Einstellung gegenüber der verfassungsmäßigen Ordnung, für die Art der Erfüllung seiner Dienstpflichten oder für politische Aktivitäten im Sinne seiner politischen Überzeugung zieht (für § 27 Satz 1 ArbGG: BVerfGK 13, 531 ≪540 f.≫; für § 24 Abs. 1 Nr. 2 VwGO: Stelkens/Panzer, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 24 Rn. 6 ≪November 2009≫).
bb) In der nur knapp begründeten Entscheidung konstatiert das Sozialgericht ohne nähere Auseinandersetzung mit § 22 Abs. 1 Satz 2 SGG, dass in der abweichenden Rechtsansicht der Beschwerdeführerin eine grobe Amtspflichtverletzung liegt. Inwiefern die Zuständigkeitszweifel der Beschwerdeführerin einen Verstoß gegen ihre Pflicht zur Verfassungstreue begründen könnten, erschließt sich nicht.
Aber auch dann, wenn das Sozialgericht in der Tatsache, dass nur die Beschwerdeführerin von Gesetzesverstößen ausgeht, für sich genommen bereits eine grobe Amtspflichtverletzung sehen sollte, ohne dass auf das Merkmal der Verfassungstreue zurückgegriffen werden muss – in diese Richtung deutet der Beschluss vom 7. Dezember 2012 –, wird nicht dargelegt, inwiefern durch das Festhalten an einer Rechtsansicht zur Kammerzuständigkeit in einem in eigener Sache geführten Rechtsstreit Rückschlüsse auf die Pflichterfüllung der Beschwerdeführerin als ehrenamtliche Richterin gezogen werden können oder das Vertrauen in ihre Integrität erschüttert werden kann. Dass die Rechtsansicht der Beschwerdeführerin schlechthin unvertretbar sei und dadurch oder durch weitere Anhaltspunkte in ihrem Verhalten eine die verfassungsmäßige Ordnung grundsätzlich in Frage stellende Einstellung zum Ausdruck komme, lässt sich den angegriffenen Beschlüssen nicht entnehmen. Die bloße Feststellung, Hinweise auf das Grundgesetz und die Bayerische Verfassung hätten die Zuständigkeitsbedenken nicht ausräumen können, genügt dafür nicht.
c) Die fehlerhafte Rechtsanwendung durch das Sozialgericht ist unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken, insbesondere der persönlichen Unabhängigkeit der Beschwerdeführerin, nicht mehr verständlich.
aa) Gemäß Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG können Richter wider ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur aus Gründen und unter den Formen, welche die Gesetze bestimmen, vor Ablauf ihrer Amtszeit entlassen oder dauernd oder zeitweise ihres Amtes enthoben werden. Sinn und Zweck der durch Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten persönlichen richterlichen Unabhängigkeit ist die Sicherung der sachlichen Unabhängigkeit des Richters, die ihrerseits der Unparteilichkeit der Rechtsprechung dient (vgl. BVerfGE 14, 56 ≪69 f.≫; 14, 156 ≪162≫).
Seinem Wortlaut nach bezieht sich Art. 97 Abs. 2 Satz 1 GG nur auf die „hauptamtlich und planmäßig angestellten Richter”. Auch den ehrenamtlichen Richtern ist aber als ein Mindestmaß an persönlicher Unabhängigkeit garantiert, dass sie vor Ablauf ihrer Amtszeit gegen ihren Willen nur kraft richterlicher Entscheidung und nur unter den im Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen aus ihrem Amt abberufen werden können (BVerfGE 14, 56 ≪70≫; 18, 241 ≪254 f.≫; 26, 186 ≪198 f.≫; 27, 312 ≪322≫; 42, 206 ≪209 f.≫; 87, 68 ≪85≫). Diesen Grundsatz hebt § 44 DRiG noch einmal besonders hervor. Er wird für die Sozialgerichtsbarkeit durch § 22 SGG einfachrechtlich ausgeformt (BVerfGE 27, 312 ≪322≫).
bb) Die angegriffene Entscheidung setzt sich mit der persönlichen Unabhängigkeit der Beschwerdeführerin nicht auseinander. Das Festhalten an einer Rechtsansicht ohne Hinzutreten weiterer Umstände als grobe Amtspflichtverletzung zu beurteilen, ist objektiv unhaltbar. Das bloße Vertreten einer – wenn auch möglicherweise unzutreffenden – Rechtsansicht kann die Enthebung aus dem Amt nicht rechtfertigen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Aufgabe des ehrenamtlichen Richters beeinträchtigt wird, seine Entscheidungen unabhängig zu treffen, ohne durch Vorgaben oder Drohungen mit amtsrechtlichen Konsequenzen zu bestimmten Auffassungen oder einem bestimmten Verhalten veranlasst zu werden.
2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin ferner in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nicht jedoch, ihren Rechtsansichten zu folgen (BVerfGE 64, 1 ≪12≫; 87, 1 ≪33≫). Ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG kann darin liegen, dass ein für den Prozessausgang wesentliches Vorbringen eines Beteiligten überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung ersichtlich nicht erwogen worden ist; allerdings muss sich dies im Einzelfall aus besonderen Umständen deutlich ergeben (BVerfGE 65, 293 ≪295 f.≫; 70, 288 ≪293≫). Das kann etwa der Fall sein, wenn das Gericht auf den wesentlichen Kern des Vortrags eines Beteiligten, der für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht eingeht, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist (BVerfGE 47, 182 ≪189≫; 86, 133 ≪146≫; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 31. August 2011 – 2 BvR 1979/08 –, juris Rn. 12 m.w.N.).
b) Hier hat das Sozialgericht den Kern des Vortrags der Beschwerdeführerin – sie habe sich der Rechtsmeinung eines Vorsitzenden nicht gebeugt und lediglich mit den zulässigen Rechtsmitteln eine Entscheidung in der Sache begehrt, was keinen Schluss auf ihre Verfassungstreue zulasse – ersichtlich nicht in Erwägung gezogen. Anders lässt sich nicht erklären, warum es, ohne auf diesen Vortrag einzugehen, unter pauschaler Bezugnahme auf das Grundgesetz und die Bayerische Verfassung aufgrund der von der Beschwerdeführerin geäußerten Zuständigkeitszweifel eine grobe Verletzung ihrer Amtspflichten feststellt. Das Vorbringen war auch nicht offensichtlich unsubstantiiert oder unerheblich, sondern für die Entscheidungen des Sozialgerichts von zentraler Bedeutung.
3. Es kann dahinstehen, ob neben der Verletzung von Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 103 Abs. 1 GG auch ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG vorliegt. Im Hinblick auf die festgestellten Grundrechtsverstöße bedarf es einer Prüfung weiterer möglicher Grundrechtsverletzungen nicht (vgl. BVerfGE 42, 64 ≪78 f.≫).
II.
Der Beschluss des Sozialgerichts vom 15. November 2012 ist aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Damit erledigt sich der Beschluss des Sozialgerichts vom 7. Dezember 2012.
Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Unterschriften
Voßkuhle, Gerhardt, Huber
Fundstellen
Haufe-Index 5382452 |
NJW 2014, 206 |
NVwZ-RR 2014, 1 |
FA 2014, 51 |
ZfSH/SGB 2014, 98 |
RohR 2013, 99 |