Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Qualifizierung einer Leistungsbewilligung als Dauerverwaltungsakt. Analogleistung. Anspruchseinschränkung. Gewährung und Fortbestehen internationalen Schutzes durch einen anderen Staat
Leitsatz (amtlich)
1. § 1a Abs 4 S 2 AsylbLG ist nicht anwendbar, wenn die maßgebliche Gewährung des Schutzes durch einen anderen Staat solange zurückliegt, dass danach die Voraussetzungen des § 2 AsylbLG verwirklicht wurden.
2. Zu den maßgeblichen Kriterien für die Auslegung eines Leistungsbescheides nach dem AsylbLG als Dauerverwaltungsakt.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 16. März 2020 dahingehend abgeändert, dass die einstweilige Anordnung auf den Zeitraum bis einschließlich 31. März 2020 befristet wird.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten der Beschwerde zu erstatten.
Gründe
Die am 2. April 2020 am Sozialgericht Kassel eingegangene Beschwerde des Antragsgegners zum Hessischen Landessozialgericht, mit der er sinngemäß beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Kassel vom 16. März 2020 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen,
ist zulässig.
Die Beschwerde ist nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, da das Sozialgericht den Antragsgegner zur Leistung in Höhe der Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) ab 3. März 2020 über das Ende des Monats hinaus bis zur erstinstanzlichen Hauptsacheentscheidung bzw. bis zur Aufenthaltsbeendigung verpflichtet hat.
Sie ist auch teilweise begründet.
Der Antrag der Antragstellerin, einer 1983 geborenen somalischen Staatsangehörigen, auf Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG im Wege der einstweiligen Anordnung ist zwar zulässig. Zutreffend ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass ein Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG statthaft ist und der Antragstellerin insoweit ein Rechtsschutzbedürfnis zur Seite steht. Ist ein Überprüfungsverfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) noch nicht bestandskräftig abgeschlossen, so ist trotz fortbestehender Bestandskraft des dem Verfahren zugrunde liegenden Verwaltungsakts ein regelungsfähiges Rechtsverhältnis gegeben, da nicht auszuschließen ist, dass das Ergebnis des Verfahrens nach § 44 SGB X die Aufhebung und Änderung dieses Verwaltungsaktes ist (vgl. Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 29. August 2016 - L 8 AS 675/16 B ER -, juris Rn. 20; Burkiczak, jurisPK-SGG, § 86b Rn. 340; Hölzer, info also 2010, 99 ≪102 f.≫).
Gegen die Ablehnung der Änderung des Bescheides vom 8. Oktober 2019 mit Bescheid vom 30. Januar 2020, eingegangen bei der Bevollmächtigten am 3. Februar 2020, legte die Antragstellerin am 3. März 2020 fristgerecht Widerspruch ein.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist aber nur teilweise begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist damit, dass der Antragsteller einen materiell-rechtlichen Leistungsanspruch in der Hauptsache hat (Anordnungsanspruch) und es ihm nicht zuzumuten ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Nach § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) sind der Anordnungsanspruch und der Anordnungsgrund glaubhaft zu machen.
Diese Anforderungen sind im Lichte der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) zu konkretisieren (zum Folgenden: BVerfG, Beschluss vom 6. August 2014 - 1 BvR 1453/12 -, juris, Rn. 10 m.w.N.). Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich - etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte -, ist es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, wenn die Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes dann auf der Grundlage einer Folgenabwägung erfolgt. Übernimmt das einstweilige Rechtsschutzverfahren allerdings vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens u...