Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. Einreise zum Zweck des Leistungsbezuges. Verfassungsmäßigkeit. Verhältnismäßigkeit. legitimer Zweck

 

Leitsatz (amtlich)

Die Anwendung der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs 2 iVm § 1a Abs 1 AsylbLG in der seit 21.8.2019 geltenden Fassung und ihrer Vorläuferregelungen ist am Maßstab der Anforderungen aus BVerfG vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 = NJW 2019, 3703 ausgeschlossen, soweit sich im Einzelfall durch die Anwendung der Normen deren repressive Zielsetzung verwirklichte.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 30. Dezember 2019 aufgehoben und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 28. Juni 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Oktober 2019 angeordnet.

Zur Aufhebung der Vollziehung hat der Antragsgegner der Antragstellerin vorläufig 120,53 € nachzuzahlen.

Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die zur Rechtsverfolgung notwendigen Kosten für beide Rechtszüge zu erstatten.

Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt B., B-Stadt, ohne Pflicht zur Ratenzahlung gewährt.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich mit ihrem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen eine Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) a.F. bzw. § 1a Abs. 2 i.V.m. § 1a Abs. 1 AsylbLG in der seit 21. August 2019 geltenden Fassung.

Sie wurde 1998 geboren und ist guineische Staatsangehörige. Erstmalig am 26. Oktober 2018 reiste sie in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Unter dem Datum vom 16. Januar 2019 verfügte die Außenstelle Bayreuth des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Überstellung der Antragstellerin an Spanien. Am 21. Mai 2019 wurde die Antragstellerin nach Spanien überstellt. Am 4. Juni 2019 reiste sie erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am gleichen Tag die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens. Sie lebte zunächst in der Erstaufnahmeeinrichtung Regierungspräsidium Gießen - Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen - Standort Rotenburg an der Fulda, später am Standort Gießen.

Die Antragstellerin verfügt ausweislich ihrer Angaben im Verwaltungsverfahren weder über Einkommen noch über Vermögen.

Mit Bescheid vom 4. Juni 2019 gewährte der Antragsgegner der Antragstellerin Leistungen nach § 3 AsylbLG.

Mit Schreiben des Antragsgegners vom 6. Juni 2019 (Bl. 71 ff. der Verwaltungsakte) wurde die Antragstellerin zu einer beabsichtigten Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG angehört.

Unter dem Datum des 28. Juni 2009 erließ der Antragsgegner einen Bescheid mit den folgenden Verfügungssätzen: „1. unter Aufhebung meines Bescheides vom 04.06.2019 werden Ihnen in Anwendung der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz ab sofort nur noch die in ihrem konkreten Einzelfall nach den Umständen unabweisbar gebotenen Leistungen gemäß §§ 3, 4 und 6 AsylbLG gewährt. 2. dies gilt zunächst für die Dauer von 6 Monaten.“ Zur Begründung wurde ausgeführt, dass im Falle der Antragstellerin umfangreiche Indizien vorlägen, die auf eine sozialleistungsmotivierte Einreise hindeuteten. Der Asylantrag sei abgelehnt worden und aufgrund des laufenden Klageverfahrens habe ein weiterer Antrag nicht gestellt werden können. Die Erst- wie auch die Wiedereinreise seien mit keinen bzw. sehr geringen finanziellen Mitteln erfolgt, so dass der Antragstellerin bewusst gewesen sei, dass sie auf staatliche Hilfen angewiesen sein würde. Es könne davon ausgegangen werden, dass der Antragstellerin bekannt sei, dass ihr derzeitiger Aufenthalt rechtswidrig sei, da sie als ausreisepflichtige Person am 4. Juni 2019 nach Spanien überstellt worden sei und somit sowohl die Ausreiseverpflichtung wie auch die Zuständigkeit Spaniens bekannt gewesen sei. Unter anderem aufgrund der nicht vorhandenen Sprachkenntnisse bestehe keine Aussicht auf eine Erwerbstätigkeit. Trotz Ausreisepflicht habe die Antragstellerin die Ausreise noch nicht wieder vollzogen.

Am 29. Juli 2019 legte die Antragstellerin Widerspruch ein.

Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Oktober 2019, dem Bevollmächtigten der Antragstellerin zugegangen am 25. Oktober 2019, fasste der Antragsgegner den Verfügungssatz zu 1. wie folgt neu: „Der Kürzungsbetrag für die festgestellte Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG wird für den Zeitraum vom 28.06.2019 bis zum 31.08.2019 auf 135,00 € festgesetzt. Darin enthalten ist im Wert von 23,00 € das als Sachleistung ausgehändigte ÖPNV-Ticket sowie einen Barbetrag i.H.v. 112,00 €. Der Kürzungsbetrag für die festgestellte Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 2 AsylbLG i.V.m. § 1a Abs. 1 AsylbLG wird ab dem 01.09.2019 auf 136,00 € festgesetzt. Darin enthalten ist im Wert von 23,00 € das als Sachleistung ausgehändigte ÖPNV-Ticket sowie einen Barbetrag i.H.v. 113,00 €.“ Im Übrigen wurde der Widerspruc...

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