Entscheidungsstichwort (Thema)

Asylbewerberleistung. Grundleistung. Anspruchseinschränkung. Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung. Gewährung von Leistungen für Ernährung, Unterkunft, Heizung, Körper- und Gesundheitspflege. Gewährung anderer Leistungen des notwendigen Bedarfs bei Vorliegen besonderer Umstände im Einzelfall. Verhältnismäßigkeit. verfassungskonforme Auslegung

 

Leitsatz (amtlich)

§ 1a Abs 1 S 3 AsylbLG ist im Lichte der Urteile des BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua = BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2 und vom 5.11.2019 -1 BvL 7/16 = NJW 2019, 3703 verfassungskonform auszulegen. Die dortige Einzelfallregelung zur Berücksichtigung besonderer Umstände muss jeden Bedarfsfall des § 3 Abs 1 AsylbLG - nicht nur des § 3 Abs 1 S 1 AsylbLG - außerhalb der nach § 1a Abs 1 S 2 AsylbLG abgesenkten Leistungen erfassen. Die Sanktion besteht mithin darin, dass der Antragsteller von dem pauschalierten Leistungsmodell des § 2 AsylbLG und der §§ 3, 3a AsylbLG auf die Anmeldung des individuellen Bedarfs insbesondere im Bereich der soziokulturellen Existenz verwiesen wird und im Falle der fehlenden Darlegung des Bedarfes auch nicht von der Pauschalierung profitieren kann.

 

Orientierungssatz

Hinweis der Dokumentationsstelle des Bundessozialgerichts: Die Entscheidung ist durch Beschluss des LSG Darmstadt vom 24.3.2020 - L 4 AY 14/19 B ER berichtigt worden.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Tenor zu 1. des Beschlusses des Sozialgerichts Fulda vom 5. Dezember 2019 wie folgt abgeändert:

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 25. Oktober 2019 wird angeordnet. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Geldleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für den Zeitraum vom 18. November 2019 bis 29. Februar 2020 in folgender Höhe zu gewähren:

November 2019 (anteilig): 337, 56 €

Dezember 2019: 843,89 €

Januar 2020: 848,93 €

Februar 2020: 848,93 €

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Die am 4. Januar 2018 erhobene Beschwerde des Antragsgegners,

den Beschluss des Sozialgerichts Fulda vom 5. Dezember 2019 aufzuheben und den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz zurückzuweisen,

ist zulässig und teilweise begründet.

Zwar ist der Antrag des Antragstellers nach sachgerechter Auslegung zulässig. Der Antrag hätte vom Sozialgericht als Kombination eines Antrages nach § 86b Abs. 1 und § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgelegt werden müssen. Denn mit der Neukonzeption der Leistungsabsenkung (§ 11 Abs. 4 Nr. 2 Asylbewerberleistungsgesetz ≪AsylbLG≫ und § 14 AsylbLG i.d.F. des Art. 4 des Gesetzes vom 31. Juli 2016, BGBl I 2016, 1939) sollten die Leistungsabsenkungen weitestgehend an das Sanktionskonzept des Sozialgesetzbuches Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) angeglichen werden (Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rn. 222). Demnach sind die Verfügungssätze der Feststellung der Pflichtverletzung und der Einschränkung des Leistungsanspruchs einerseits und der Verfügung der leistungsrechtlichen Umsetzung andererseits (entweder durch Änderungsbescheid oder einen Neubewilligungsbescheid in abgesenkter Höhe) zu unterscheiden. Da der Widerspruch gegen die Feststellung der Einschränkung des Leistungsanspruchs keine aufschiebende Wirkung entfaltet (§ 11 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG), wäre der Senat ohne Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs am Erlass einer einstweiligen Anordnung gehindert, mit der Leistungen in einer die festgestellte Einschränkung übersteigenden Höhe gewährt werden. Umgekehrt ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung nicht hinreichend, da es in dieser Konstellation keine Leistungsbewilligung in beanspruchter Höhe gibt, die wiederaufleben könnte (vgl. Oppermann, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rn. 222 am Ende). Statthaft ist daher allein eine Kombination beider Anträge (vgl. auch Sonnhoff/Weber in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl., § 31b Rn. 28 ≪Stand: 10.12.2019≫; im Erg. Kallert in: Gagel, SGB II/SGB III, Vor § 39 SGB II Rn. 28 ≪Stand: 56 EL≫).

Der Antrag des anwaltlich nicht vertretenen Antragstellers ist aufgrund der Bezugnahme auf die Widerspruchseinlegung am 2. Dezember 2019 und der insgesamt auf die Abwehr der Leistungsabsenkung und die Durchsetzung des Anspruchs auf Leistungen nach § 2 AsylbLG gerichteten Begründung einer solchen Auslegung zugänglich.

Der Antrag des Antragstellers ist jedoch auf der Grundlage des Sach- und Streitstandes des Beschwerdeverfahrens nur in geringerem Umfang als vom Sozialgericht angenommen begründet, was zum teilweisen Erfolg der Beschwerde führt.

1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 25. Oktober 2019 war na...

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