Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Kindergeld. Kindergeld für sich selbst. Nichtkenntnis des Aufenthalts der Eltern. Kenntnis des Aufenthaltsorts zum Zeitpunkt des Fluchtbeginns. keine Anhaltspunkte für einen Aufenthaltswechsel. Aufenthalt im rein körperlichen Sinne. postalische Erreichbarkeit nicht erforderlich. Fehlen von Straßennamen und Hausnummern in bestimmten Orten Afghanistans. missbräuchliche Unkenntnis. Unterlassen von auf der Hand liegenden Erkundigungen. einfache Nachfrage am Telefon. Verfolgungsgefahr für die Eltern. Zumutbarkeit der indirekten Frage nach dem Ob eines Aufenthaltswechsels
Leitsatz (amtlich)
1. Von einer subjektiven Kenntnis vom Aufenthaltsort der Eltern oder des noch lebenden Elternteils des Kindergeld beanspruchenden Kindes iSv § 1 Abs 2 S 1 Nr 2 BKGG (juris: BKGG 1996) kann je nach den Umständen des Einzelfalls ausgegangen werden, wenn der Aufenthaltsort positiv bekannt war und sich keine Anhaltspunkte für eine Änderung desselben ergeben.
2. Aufenthalt iSv § 1 Abs 2 S 1 Nr 2 BKGG ist im rein körperlichen Sinne zu verstehen und setzt nicht zwingend einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt voraus.
3. Eine missbräuchliche Unkenntnis vom Aufenthaltsort kann im Einzelfall bei fehlender möglicher Nachfrage bestehen.
Orientierungssatz
1. Selbst wenn die Eltern oder der verbliebene Elternteil im Falle der Preisgabe ihres Aufenthaltsorts in Telefongesprächen späteren Repressalien in ihrem Aufenthaltsstaat ausgesetzt sein könnten (hier: Verfolgung durch die Taliban), ist es dem Kind in der Regel ohne Weiteres zumutbar, indirekt danach zu fragen, ob sich die Eltern oder der verbliebene Elternteil noch am letztbekannten Ort aufhalten.
2. Zu Leitsatz 2: Die Tatsache, dass es dem Kind nicht möglich ist, mit den ihm bekannten Kontaktdaten seine Eltern oder den noch lebenden Elternteil postalisch unter einer bestimmten Anschrift zu erreichen (hier: weil laut dessen Angaben in der betreffenden Ortschaft weder Straßennamen noch Hausnummern vorhanden seien), ist unerheblich.
Nachgehend
Tenor
I. Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Kassel vom 10. September 2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander für beide Instanzen keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit zwischen den Beteiligten steht der Anspruch des Klägers auf Kindergeld für sich selbst für die Zeit ab 1. Dezember 2019.
Der in Kabul geborene Kläger ist afghanischer Staatsbürger. Er reiste am 16. Dezember 2015 ohne seine Eltern in die Bundesrepublik Deutschland ein. Während in der amtlichen Meldebescheinigung der Stadt A-Stadt vom 22. Mai 2018 sowie im Ausbildungsvertrag zunächst das Geburtsdatum des Klägers mit 1996 angegeben war, lässt sich aus der Duldung, ausgestellt durch den Werra-Meißner-Kreis am 16. August 2018, ersehen, dass das dort ursprünglich ebenfalls mit 1996 angegebene Geburtsdatum auf 1998 amtlich korrigiert wurde. Auch dem durch das Generalkonsulat von Afghanistan in Bonn ausgestellten Ausweisdokument vom 25. Juni 2019 lässt sich das Geburtsdatum 1998 entnehmen. Der Kläger selbst hat gegenüber der Beklagten sein Geburtsdatum immer mit 1998 angegeben.
Nach Auskunft des Landrates des Werra-Meißner-Kreises vom 30. Januar 2020 erhielt der Kläger für den Zeitraum vom 21. November 2016 bis 15. August 2018 eine Aufenthaltsgestattung gem. § 63 Asylgesetz (AsylG) und vom 16. August 2018 bis 14. Mai 2020 eine Duldung zum Zwecke der Ausbildung nach § 60a Abs. 2, 3 AsylG (wohl: Aufenthaltsgesetz ≪AufenthG≫). Diese Duldung zum Zwecke der Ausbildung wurde über den 14. Mai 2020 hinaus verlängert bis zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zwecke der Erwerbstätigkeit am 7. April 2021, deren Gültigkeit sich bis zum 6. April 2023 erstreckt.
Der Kläger absolvierte vom 15. Mai 2018 bis 14. Mai 2020 eine erstmalige Ausbildung zur Fachkraft im Gastgewerbe, die bis zum 31. Januar 2021 verlängert wurde. Ausweislich des Abschlusszeugnisses vom 22. Januar 2021 schloss der Kläger die Ausbildung erfolgreich ab.
Nachdem die Beklagte zunächst einen Antrag des Klägers auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) mit Bescheid vom 9. Dezember 2019 abgelehnt hatte, da ein Anspruch auf Kindergeld für das Kind selbst hiernach nicht vorgesehen sei, beantragte der Kläger am 30. Dezember 2019 die Gewährung von Kindergeld für Vollwaisen oder Kinder, die den Aufenthaltsort ihrer Eltern nicht kennen (Kindergeld für sich selbst). Im Rahmen der Antragstellung gab er die Namen seiner Eltern an, die Geburtsdaten ließ er offen. Ihre letzte bekannte Anschrift stamme aus dem Jahr 2015. Im Juli 2015 habe er sowohl zu seinem Vater als auch zu seiner Mutter letztmals persönlichen Kontakt gehabt. Den Todestag seines Vaters gab er mit „2015“ an. Weiter gab er an, dass kein Aufgebotsverfahren zum Zwecke der Todeserklärung oder ein Aufgebot nach dem Verschollenheitsgesetz (VerschG) du...