Entscheidungsstichwort (Thema)

Gewaltopferentschädigung. Gewalttat. Freiheitsberaubung. Flucht durch Sturz aus dem Fenster. grob vernunftwidriges Verhalten. Mitverursachung. Unbilligkeit. unsolider Lebenswandel. geringer Konsum von Alkohol und Marihuana

 

Orientierungssatz

1. Zum Anspruch auf Opferentschädigung gemäß § 1 Abs 1 S 1 OEG einer Person, die in ihrer Freiheit beraubt und mangels Alternativen aus dem Fenster dritten Obergeschoss geflüchtet ist.

2. In einem unsoliden Lebenswandel sind allein, ohne das Hinzutreten besonderer gravierender Merkmale, keine Aspekte zu sehen, die eine Leistungsverweigerung nach § 2 OEG rechtfertigen. Für solche Gesichtspunkte müssen die Anforderungen hoch angesetzt werden und die öffentlichen Belange berühren (vgl BSG vom 7.11.1979 - 9 RVg 2/78 = BSGE 49, 104 = SozR 3800 § 2 Nr 1).

3. Zum Nichtvorliegen von Gründen für eine Leistungsverweigerung nach § 2 OEG bei auf Grund gelegentlich erfolgten Konsums von Marihuana.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24. September 2003 aufgehoben und der Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 25. Oktober 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Februar 2003 verurteilt, der Klägerin Versorgungsleistungen nach dem OEG wegen der Folgen der Gewalttat vom 21. September 2000 (Fraktur des ersten Lendenwirbelkörpers, Handgelenksfraktur links und Ellenbogengelenksluxation rechts) zu gewähren.

Der Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Versorgungsleistungen (dem Grunde nach) wegen der Folgen der Gewalttat vom 21. September 2000.

Die 1977 (nicht 1971) in C.-Stadt geborene Klägerin besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit, lebt aber seit ihrer Kindheit bei ihrer Familie in Neuseeland, die sich dort aus beruflichen Gründen aufhält. Nach Beendigung ihres Kunststudiums in D.-Stad reiste sie am 29. Juli 2000 nach Deutschland, um dort Verwandte zu besuchen und eine Arbeitsstelle - eventuell beim Film - zu finden. Mitte September 2000 reiste sie nach E.-Stadt, um bei Verwandten bei der Weinlese zu helfen und um B-Stadt kennen zu lernen.

Am 19. September 2000 fuhr sie erstmals nach B-Stadt, wo sie bei einem Schaufensterbummel B-Straße auf zwei Männer (darunter der spätere Täter - T.) und eine Frau traf, die dort Tarot-Karten legten. Sie ließ sich ebenfalls die Karten legen und kam mit T. in englischer Sprache über Neuseeland ins Gespräch, der angab, sich ebenfalls viele Jahre u. a. in Neuseeland aufgehalten zu haben (was auch zutraf) und ebenfalls Künstler zu sein. Er lud die Klägerin mit dem Hinweis in sein Studio ein, er habe dort Marihuana vorrätig, welches sie rauchen könnten. Beide begaben sich hierauf in die in der B-Stadter Innenstadt gelegene Wohnung des T., wo sie gemeinsam Marihuana rauchten und sich über Kunst und Film unterhielten. Hierbei erweckte der T. bei der Klägerin die Hoffnung, er könne ihr möglicherweise Arbeit verschaffen. Ferner bot er der Klägerin an, während seines bevorstehenden Aufenthaltes in Malaysia in seiner Wohnung zu wohnen. Vor dem Verlassen der Wohnung übergab die Klägerin dem T. eine Visitenkarte mit ihrer Anschrift bei Verwandten in Deutschland und kündigte an, sie werde möglicherweise am nächsten Tage wiederkommen. Als sie jedoch am nächsten Tag bei T. nicht erschien, rief dieser die Tante der Klägerin an und bat sie, der Klägerin auszurichten, sie solle ihn sofort nach ihrer Rückkehr anrufen, weil es um einen Job für sie gehe. Da die Tante aufgrund des Telefongesprächs einen negativen Eindruck von dem T. gewonnen hatte, versuchte sie in der Folgezeit vergeblich, die Klägerin telefonisch zu erreichen, um sie von einem weiteren Kontakt zu T. abzuhalten.

Am Tattag, dem 21. September 2000, fuhr die Klägerin über ZU. nach B-Stadt und traf gegen 11:45 Uhr in der Wohnung des T. ein, um ihn zum Mittagessen einzuladen und dabei näher kennen zu lernen. Außerdem hoffte sie nach wie vor auf einen Job beim Film. Auf entsprechende Bitte des T. betrat sie dessen Wohnung. Gemeinsam mit T. rauchte sie auf dessen Angebot hin zunächst eine Marihuana-Zigarette und unterhielt sich über ihre beruflichen Möglichkeiten beim Film. T. bat ihr an, eines der vielen Frauenkleider, die in der Wohnung umher lagen, anzuziehen, was sie aber ablehnte, weil sie ihr nicht gefielen. Ferner äußerte T., ihre Frisur sei für eine Filmkarriere nicht vorteilhaft und bot sich an, ihr die Haare zu schneiden. In der Annahme, der T. verfüge über entsprechende Fähigkeiten, erlaubte ihm die Klägerin die bisher schulterlangen Haare im Nacken abzuschneiden. Als sie sich hierauf einen Spiegel ausbat, lehnte dies T. zunächst ärgerlich ab und verwies sie auf einen Spiegel in der Toilette. Nach dortiger Besichtigung des Ergebnisses verspürte die Klägerin den dringenden Wunsch, sofort einen professionellen Friseur aufzusuchen und äußerte dies auch gegenüber dem T., was ...

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