Rz. 2
Der Grundsatz der Mündlichkeit bedeutet, dass jeder Kläger in einem Hauptsacheverfahren Anspruch darauf hat, dass seine Streitsache in wenigstens einer mündlichen Verhandlung im Instanzenzug in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht erörtert wird (vgl. Art. 6 Abs. 1 EMRK). Ein Verzicht auf diesen Anspruch ist nach § 124 Abs. 2 (Entscheidung ohne mündliche Verhandlung) möglich.
Rz. 3
Die mündliche Verhandlung, die der Entscheidung i. d. R. (§ 124 Abs. 1) vorauszugehen hat, steht im Mittelpunkt unserer "Kultur einer im Sprechen über das Recht nachdenklichen Rechtsprechung" (vgl. Kirchhof, "Recht sprechen, nicht verschweigen", FAZ v. 18.9.1997). Sie ist gleichsam das "Kernstück" des Verfahrens, um dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und den Streitstoff erschöpfend zu erörtern (BSGE 44, 292, 293; BSG, SozR 3-1500 § 160 Nr. 33; BSG, Beschluss v. 8.9.2015, B 1 KR 134/14 B). In ihr besteht die Möglichkeit für das Gericht, sich einen Eindruck von den Beteiligten und ihren Argumenten zu verschaffen und für diese, sich über das Einreichen von Schriftsätzen hinaus dem Gericht mitzuteilen. Verbliebene klärungsbedürftige Fragen können insbesondere bei unvertretenen Klägern effektiv geklärt werden. Die Möglichkeiten einer unstreitigen Erledigung des Rechtsstreits können erörtert werden. Auch bei streitiger Entscheidung fördert eine mündliche Verhandlung, in der Gelegenheit bestanden hat, sich persönlich zum Streitstoff zu äußern, die Akzeptanz gerichtlicher Entscheidungen. Zu diesem Zweck kann der Vorsitzende u. a. das persönliche Erscheinen des Klägers anordnen (§ 111 Abs. 1 Satz 1). Die Anordnung des persönlichen Erscheinens steht aber grundsätzlich im Ermessen des Vorsitzenden und hat nach der Rechtsprechung des BSG (Beschluss v. 2.2.2010, B 4 AS 48/10 B; v. 21.1.2008, B 2 U 311/07) nicht die Funktion, das rechtliche Gehör zu wahren, und die Ermöglichung der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung durch die Gewährung eines Reisekostenvorschusses an mittellose Personen kommt auch ohne Anordnung des persönlichen Erscheinens in Betracht (vgl. § 191 i. V. m.§ 3 JVEG; vgl. dazu und zu den damit verbundenen streitigen Fragen LSG Baden-Württemberg, Beschluss v. 21.3.2007, L 7 SO 258/07 NZB; VGH Baden-Württemberg, DÖV 2010, 48; Bay. VGH, Beschluss v. 14.5.2012, 13a ZB 12.30122). Wenn die Aufforderung zum schriftlichen Vortrag, etwa wegen Unbeholfenheit oder Sprachunkenntnis des Klägers, keine umfassende Sachverhaltsaufklärung gewährleistet, kann nach der Rechtsprechung des BSG die Anordnung des persönlichen Erscheinens geboten sein, um Gelegenheit zum mündlichen Vortrag zu geben (BSG, Urteil v. 15.7.1992, 9a RV 3/91). Das gilt nach BVerfG (NJW 1992, 293) insbesondere dann, wenn ein Erscheinen auf eigene Kosten sich als praktisch undurchführbar erweist, wenn also das Kostenrisiko den Zugang zum Gericht versperrt. Hieran wird deutlich, welcher Stellenwert der mündlichen Verhandlung im sozialgerichtlichen Verfahren zugedacht ist (zur besonderen Bedeutung des Sachvortrags innerhalb der mündlichen Verhandlung vgl. BSG, SozR 3- 1500 § 112 Nr. 3; kritisch dazu Legde, SGb 2012, 112). Dazu, dass eine mündliche Verhandlung nur Sinn hat, wenn auch ein möglichst konkretes Rechtsgespräch geführt wird, vgl. Redeker, NJW 2002, 192.
Rz. 3a
Der Grundsatz der Mündlichkeit ist gemäß § 124 Abs. 1 durch das Gericht zu gewährleisten und betrifft den zuständigen Spruchkörper (vgl. Bergner, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 124 Rz. 25). Daher sind vor der mündlichen Verhandlung durchgeführte Maßnahmen, wie etwa ein Erörterungstermin (§ 106 Abs. 2, Abs. 3 Nr. 7) hiervon nicht betroffen. Bei einer Entscheidung durch den Berichterstatter zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern nach § 153 Abs. 5 ("kleiner Senat") gilt dagegen § 124 Abs. 1, da infolge des Übertragungsbeschlusses dies die ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts darstellt.
Rz. 4
Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, muss den Beteiligten Gelegenheit gegeben werden, sich zur Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung zu äußern. Eine Mindest- oder Regeldauer der mündlichen Verhandlung ist nicht vorgeschrieben; diese hat sich vielmehr an den Umständen des Einzelfalles zu orientieren (vgl. BSG, Beschluss v. 13.11.2017, B 13 R 17/17 BH). Die Möglichkeit der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung setzt die ordnungsgemäße Benachrichtigung über den Termin zur mündlichen Verhandlung voraus, die bei anwaltlich vertretenen Beteiligten eine an den Bevollmächtigten gerichtete Mitteilung der Terminbestimmung erfordert. Diese muss zwar nach § 63 Abs. 1 Satz 2 nicht (mehr) zugestellt werden; es genügt schon die Bekanntgabe, etwa durch einfachen Brief oder durch Einwurfeinschreiben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch die bloße Bekanntgabe der Ladung grundsätzlich der Nachweis des Zugangs nicht geführt werden kann und so im Bestreitensfall der Vorwurf der Verletzung rechtlichen Gehörs nicht ausgeräumt werden kann (BVerfG, Beschluss v. 19.6.2013, 2 BvR 19...