Rz. 8
Im sozialgerichtlichen Verfahren muss das Gericht gemäß § 103 den Sachverhalt von Amts wegen erforschen. Die Beteiligten tragen deshalb keine subjektive Beweislast. Es gilt aber der Grundsatz der objektiven Beweislast (Feststellungslast). Nach dem Grundsatz der objektiven oder materiellen Beweis- oder Feststellungslast ist zu entscheiden, wenn sich entscheidungserhebliche Tatsachen nicht mehr feststellen lassen (BSGE 6, 70, 72 f.; BSGE 19, 52, 53; BSGE 30, 121, 123). Die Regeln über die objektive Beweislast dürfen indessen erst angewendet werden, wenn alle verfügbaren Erkenntnisquellen ausgeschöpft sind (BSGE 27, 40, 42; BSGE 30, 121, 123; SozR 1500 § 128 Nr. 18; SozR 3-2200 § 182 Nr. 12) und entheben den Tatrichter nicht seiner insbesondere durch § 103 und § 128 Abs. 1 begründeten Pflicht zur eingehenden Erforschung des Sachverhalts und zur sorgfältigen Würdigung der erhobenen Beweise. Die Frage der Beweislastverteilung stellt sich also erst, wenn es nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts nicht gelungen ist, die bestehende Ungewissheit zu beseitigen (BSG, Urteil v. 26.11.1992, 7 RAr 38/92, BSGE 71, 256). Wer die materielle Beweislast trägt, bestimmt sich nach materiellem Recht und ist in Auslegung der im Einzelfall einschlägigen Norm zu ermitteln (vgl. BVerwG, Urteil v. 13.10.1988, 5 C 35.85, BVerwGE 80, 290; BSGE 6, 70, 72 f.; BSGE 15, 112, 114; BSGE 19, 52, 53; BSGE 30, 121, 123; BSGE 71, 256). Ist die objektive Beweislast nicht unmittelbar selbst und eindeutig vom Gesetz bestimmt, ist letztlich maßgeblich, welche Seite nach dem Plan des Gesetzgebers, hilfsweise nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen, mit dem potenziellen Unrecht belastet werden kann (vgl. BSGE 71, 256). Es sind dabei nicht nur der Zweck der Norm, sondern auch ihre Stellung sowie Erfordernisse wirksamen Rechtsschutzes zu berücksichtigen. Anhaltspunkte für die Abgrenzung bieten so unterschiedliche Kriterien wie Regel und Ausnahme (BVerwGE 3, 267, 273; BVerwGE 12, 247, 250), die Zumutbarkeit der Belastung mit einem Beweisnachteil und der Zurechenbarkeit der Ungewissheit bzw. Unaufklärbarkeit zur Verantwortungssphäre der einen oder anderen Seite (BSG, Urteil v. 26.11.1992, 7 RAr 38/92, BSGE 71, 256; BVerwGE 44, 265, 271; BVerwGE 55, 288, 297). Da ohne Mitwirkung des Betroffenen Tatsachen, die in dessen Sphäre liegen, nicht ermittelt werden können, können Beweiserleichterungen eingreifen, wenn der Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen wird (BSG, Urteil v. 2.9.2004, B 7 AL 88/03 R, Rz. 24).
Lässt sich einer Norm keine besondere Regelung zur Beweislast entnehmen, so greift der allgemeine Rechtsgrundsatz ein, dass die Nichterweislichkeit von Tatsachen, aus denen eine Partei ihr günstige Rechtsfolgen herleitet, zu ihren Lasten geht (BVerwG, Urteil v. 13.10.1988, 5 C 35.85, BVerwGE 80, 290, 296; BSG, USK 7684; BSG, USK 8474).
Rz. 9
Zur Verdeutlichung einige Beispiele: Fehlt es am Nachweis des schädigenden Vorgangs, geht das nach den Grundsätzen der objektiven Beweis- oder Feststellungslast im Opferentschädigungsrecht zulasten des Klägers (BSG, SozR 1500 § 128 Nr. 39). Die Beweislast dafür, dass der Tatbeitrag des Gewaltopfers wesentlich mitursächlich für die Schädigung i. S. d. OEG war, trifft dagegen den Versorgungsträger (BSGE 78, 270, 272). Lässt sich Arbeitsunfähigkeit nicht feststellen, trifft die Folge der Nicherweislichkeit den Krankengeld beanspruchenden Versicherten. Der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt dabei kein besonderer Beweiswert zu (vgl. BSG, Urteil v. 8.11.2005, B 1 KR 18/04 R). Die Beweislast dafür, dass der Arbeitslose wegen unberechtigter Arbeitsablehnung eine Sperrzeit verwirkt hat, trifft die Bundesagentur grundsätzlich auch hinsichtlich der Frage, ob die Ablehnung ohne wichtigen Grund erfolgt ist (vgl. zu § 119 Abs. 1 AFG BSG, Urteil v. 26.11.1992, 7 RAr 38/92, BSGE 71, 256). Bei der aktuellen Sperrzeitregelung des § 144 SGB III muss die Bundesagentur auch die Voraussetzungen des wichtigen Grundes von Amts wegen ermitteln und trifft sie im Grundsatz die objektive Beweislast dafür, dass der Versicherte keinen wichtigen Grund (Abs. 1 Satz 1) hatte. Nach Abs. 1 Satz 4 der Vorschrift hat aber der Arbeitnehmer, der sich versicherungswidrig verhalten hat, die für die Beurteilung eines wichtigen Grundes maßgebenden Tatsachen darzulegen und nachzuweisen, wenn diese in seiner Sphäre oder seinem Verantwortungsbereich liegen. An dieser Regelung kommen die oben genannten Grundsätze der Verteilung der objektiven Beweis- bzw. Feststellungslast zum Ausdruck (ausdrückliche gesetzliche Regelung; Zurechenbarkeit der Ungewissheit bzw. Unaufklärbarkeit zur Verantwortungssphäre der einen oder anderen Seite). Ist Wahrscheinlichkeit für das Bestehen eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall/der Berufskrankheit und dem Tod des Versicherten nicht feststellbar (vgl. aber § 63 Abs. 2 Satz 1 SGB VII), so treffen die Folgen der objektiven Beweislosigkeit denjenigen, der aus dieser Tatsache ein Recht h...