1 Allgemeines
Rz. 1
Die Vorschrift wurde eingefügt durch das JKomG v. 22.3.2005 (BGBl. I S. 837). Die Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 15/4067 S. 38) führt hierzu aus:
"Sie ermächtigt die Bundesregierung und die Landesregierungen jeweils für ihren Bereich die elektronische Akte einzuführen und regelt den binnenjustiziellen Medientransfer. Absatz 1 enthält den Grundsatz, dass Prozessakten elektronisch geführt werden können, und enthält im Übrigen eine Verordnungsermächtigung, die der Bundesregierung und den Landesregierungen erlaubt, die elektronische Akte einzuführen. Bis zu dem in der Rechtsverordnung bestimmten Zeitpunkt kann die Akte nur in Papierform geführt werden. Nach diesem Zeitpunkt muss sie elektronisch geführt werden."
Bis zum Erlass einer Rechtsverordnung ist die Akte ausschließlich in Papierform zu führen. Die Ermächtigung befugt den jeweiligen Verordnungsgeber nach § 65b Abs. 1 Satz 5, die elektronische Akte für einzelne Gerichte oder für bestimmte Verfahrensarten einzuführen (hierzu Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 65b Rn. 2).
Rz. 2
Soweit allerdings in der Gesetzesbegründung ausgeführt wird, nach Erlass der Rechtsverordnung müsse die Akte elektronisch geführt werden und damit eine Ausschließlichkeitswirkung angedeutet wird, trifft das nicht zu. Maßgebend für die Auslegung einer Norm ist zunächst deren Wortlaut (vgl. BSG, Urteil v. 12.6.2003, B 9 V 2/02 R, SozR 4-3100 § 84a Nr. 1; LSG NRW, Beschluss v. 17.6.2009, L 11 B 6/09 KA ER; Urteil v. 28.7.2004, L 10 V 11/03, juris). Erst wenn dieser auslegungsbedürftig und -fähig ist, kann auf teleologische, historische oder systematische Auslegungsmethoden zurückgegriffen werden. Der Wortlaut des § 65b Abs. 1 Satz 1 ist zwar auslegungsfähig und -bedürftig, indessen trägt er keine Ausschließlichkeitswirkung. Der Wortlaut belegt zunächst nur, dass die Prozessakten elektronisch geführt werden "können". Dafür, dass das "Können" lediglich eine Ermächtigung enthält und sich mit Wirksamwerden der einschlägigen Rechtsverordnung (§ 65b Abs. 1 Satz 2) gleichsam in die Pflicht einer elektronischen Aktenführung umwandelt, fehlt der geringste Anhalt. Eine derartig grundlegende Abkehr von der derzeitigen Aktenführung in Papierform hätte der Gesetzgeber unmissverständlich in § 65b Abs. 1 Satz 1 formulieren müssen, was unschwer möglich gewesen wäre. Zudem erscheint es als sinnwidrig, den innergerichtlichen Medientransfer komplett und ausschließlich auf eine elektronische Akte umzustellen, ohne zu erwägen, ob und inwieweit dies im Einzelnen zweckmäßig ist. Das "Können" wird erst in dem Moment anwendbar, in dem die Rechtsverordnung erlassen wird (Kopp/Schenke, VwGO, 17. Aufl. 2011, § 55b Rn. 2; Geiger, in: Eyermann, VwGO, 12. Aufl. 2006, § 55b Rn. 5; str.). Im Übrigen bleibt zu berücksichtigen, dass die Motive und Vorstellungen der Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften nur dann berücksichtigt werden, wenn sie im Gesetz einen ausreichenden Niederschlag gefunden haben (BFH, Urteil v. 23.9.1999, IV R 56/98, BFHE 189, 351; Urteil v. 14.5.1991, VIII R 31/88, BFHE 164, 516; LSG NRW, Beschluss v. 4.5.2011, L 11 KA 120/10 B ER, juris; Beschluss v. 28.12.2010, L 11 KA 58/10 B ER, juris; Beschluss v. 11.10.2010, L 11 KA 61/10 B ER, GesR 2011, 32). Das wiederum ist nicht der Fall, weil Wortlaut und Sinngehalt des § 65b Abs. 1 Satz 1 indizieren, das Verb "können" als Ermächtigung zu interpretieren (so im Ergebnis auch Zeihe, SGG, 8. Aufl. 11/2010, § 65b Rn. 3). Gleichermaßen lässt sich eine entsprechende Pflicht nicht § 65b Abs. 1 Satz 2 entnehmen. Das folgt schon aus Sinn und Zweck der elektronischen Aktenführung. Die Gesetzebegründung benennt als Vorteile: Die Kommunikation zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten wird beschleunigt; der Akten- und Dokumententransfer wird beschleunigt; die Akten sind kontinuierlich verfügbar; verschiedene Bearbeiter können gleichzeitig zugreifen; eine örtlich unabhängige Aktenbearbeitung wird ermöglicht; der Akteninhalt kann besser ausgewertet, dargestellt und verarbeitet werden; die elektronische Akte bietet einfache, komfortable und schnelle Suchmöglichkeiten; redundante Daten werden vermieden, insbesondere wenn strukturierte Daten ausgetauscht werden; die Statistik und Verwaltung von Daten werden vereinfacht und beschleunigt (BT-Drucks. 15/4067 S. 24). Ausgehend hiervon wäre eine umfassende Pflicht, die elektronische Akte einzuführen, schlicht widersinnig, denn es wird eine Reihen von Verfahren geben, in denen die Beteiligten mit dem Gericht in jedem Fall in Papierform korrespondieren (vgl. auch Kopp/Schenke, § 55b Rn. 2; verkannt von Rudisile, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, 6/2011, § 55b Rn. 13, 14). Der gegenteiligen Auffassung (z. B. Keller, § 65b Rn. 2; Rudisile, § 55b Rn. 13 f.) kann mithin gefolgt werden.
2 Rechtspraxis
Rz. 3
Dokumente in Schriftform sind in die elektronischer Form zu übertragen (Abs. 2). Originaldokumente sind aber bis zum Abschluss des Verfahrens aufzubewahren (Abs. 3), damit im Zweifelsfall ...