Rz. 3
Die mögliche Anwendung bzw. Gewährung von vorbeugender Hilfe gemäß Abs. 1 ist bei allen sozialhilferechtlich relevanten drohenden Notlagen denkbar, die dem Sozialhilfeträger i. S. d. § 18 Abs. 1 bekannt werden (vgl. Armborst, a. a. O., § 15 Rz. 3). Durch die frühzeitige und präventive Hilfe soll das Eintreten einer Notlage nach dem SGB XII vermieden werden, wovon i. d. R. nicht nur die Leistungsberechtigten, sondern auch die Sozialhilfeträger profitieren, für die die präventiven Hilfen in diesem Sinne oftmals kostengünstiger sind (vgl. Bieback, a. a. O., Rz. 1, 7).
Die Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmals einer drohenden Notlage müssen als gegeben angenommen werden, wenn nach allgemeiner Lebenserfahrung und den besonderen Verhältnissen des Einzelfalles mit dem baldigen Eintritt einer Notlage zu rechnen ist (vgl. Luthe, a. a. O., § 15 Rz. 5 m. w. N.). Hierbei muss es sich um eine konkrete und sozialhilferechtlich relevante Notlage handeln, was bei abstrakten Gefahren und Risiken sowie bei die Allgemeinheit betreffenden Notlagen nicht der Fall ist (vgl. Bieback, a. a. O., § 15 Rz. 15 m. w. N.). Es handelt sich um einen grundsätzlich weit auszulegenden unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. Bieback, a. a. O., Rz. 12; Luthe, a. a. O., Rz. 5). Nach dem Gesetzestext soll vorbeugende Hilfe zudem nur dann geleistet werden, wenn die drohende Notlage dadurch ganz oder teilweise abgewendet werden kann. Aus dem Wortlaut ergibt sich, dass die Abwendung der Notlage nicht mit absoluter Sicherheit durch die Hilfeleistung eintreten muss. Es genügt, dass der gewünschte Erfolg der vorbeugenden Hilfe hinreichend wahrscheinlich ist.
Vorbeugende Hilfe in diesem Sinne kann z. B. die Schuldnerberatung sein, wenn dadurch Sozialhilfebedürftigkeit vermieden werden kann. Dies gilt nach der Rechtsprechung des BSG jedoch nicht für erwerbsfähige Hilfebedürftige, für die vorrangig die Vorschriften des SGB II maßgeblich sind (vgl. BSG, Urteil v. 13.7.2010, B 8 SO 14/09 R). Gleichfalls kann es sich bei vorbeugenden Sozialhilfeleistungen zum Erhalt der Wohnung für die Zeit nach der Haftentlassung um vorbeugende Hilfe i. S. d. § 15 handeln (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil v. 24.6.2021, L 8 SO 50/18).
Bei der Gewährung von vorbeugender Hilfe empfiehlt es sich im Übrigen, dass der Sozialhilfeträger sich einen Überblick über die Ursachen der Notlage verschafft, da nur dann erwartet werden kann, dass eine gewährte Hilfe längerfristig und nachhaltig das Entstehen weiterer Notlagen vermeiden hilft (Bieback, a. a. O., § 15 Rz. 20). Ggf. sind hierzu weitere Beratungs- und Unterstützungsleistungen durch den Sozialhilfeträger erforderlich.
Allerdings besteht kein eigener, einklagbarer Rechtsanspruch auf die Gewährung vorbeugender Hilfe (Luthe, a. a. O., § 15 Rz. 2; Armborst, a. a. O., § 15 Rz. 2); der Sozialhilfeträger hat hier einen weiten Ermessensspielraum. Sein Entschließungsermessen ("Ob") ist ausweislich des Gesetzeswortlauts ("soll") eingeschränkt bzw. gebunden. Hinsichtlich des "Wie" der Hilfeleistung hat der Sozialhilfeträger ein weites Auswahlermessen, sodass grundsätzlich alle sozialhilferechtlichen Leistungsformen (Geldleistungen, Sachleistungen, Dienstleistungen) in Betracht kommen. Auch hierbei muss allerdings das Ziel der Sozialhilfe, den Betroffenen ein eigenverantwortliches Leben zu ermöglichen und zu sichern, im Blick behalten werden.
Das SGB XII kennt auch an anderer Stelle eine Regelung für vorbeugende Hilfe: § 47 – vorbeugende Gesundheitshilfe. Durch Satz 2 wird klargestellt, dass diese Regelung vorrangig im Verhältnis zu § 15 Abs. 1 anzuwenden ist. Liegen allerdings die in der Sonderreglung genannten Voraussetzungen nicht vor, kann vorbeugende Hilfe nach § 15 Abs. 1 aufgrund einer entsprechenden Ermessensentscheidung dennoch gewährt werden (Fichtner, a. a. O., § 15 Rz. 4 ff.). Weitere präventive Hilfen zur Abwendung einer drohenden Notlage sehen etwa § 36 (Übernahme von Schulden u. a. zwecks Abwendung ansonsten drohender Wohnungslosigkeit), § 68 (Maßnahmen zur Abwendung von Schwierigkeiten im Rahmen der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten), § 71 (Altenhilfe zur Verhütung von Schwierigkeiten, die durch das Altern drohen) und § 99 SGB IX (Eingliederungshilfe bei drohender wesentlicher Behinderung) vor.