Rz. 67
Jeder Elternteil kann beantragen, ihm die elterliche Sorge oder einen Teil der elterlichen Sorge zur alleinigen Ausübung zu übertragen, wenn die Eltern nicht nur vorübergehend getrennt leben. Die Eltern leben getrennt, wenn zwischen ihnen keine häusliche Gemeinschaft besteht und ein Elternteil sie erkennbar nicht herstellen will. Die häusliche Gemeinschaft ist auch dann aufgelöst, wenn die Eltern innerhalb ihrer Wohnung getrennt leben, d. h. die Wohnung so aufgeteilt haben, dass ein gemeinsamer Haushalt nicht mehr existiert (vgl. § 1567 Abs. 1 BGB, Diederichsen, in: Palandt, BGB, § 1671 Rz. 10). Wird diese Voraussetzung erfüllt, ist dem Antrag nach § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB grundsätzlich stattzugeben, wenn der andere Eltern zustimmt. Fehlt es an einer Zustimmung, ist der Antrag nach § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB begründet, wenn sowohl die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge als auch die Übertragung auf den Antragsteller dem Wohl des Kindes am besten entspricht.
2.2.4.2.1 § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB – Zustimmung
Rz. 68
§ 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB ist Ausdruck des Gestaltungsvorranges der Eltern, der das Wächteramt des Staates (Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG) zurückdrängt (Ziegler, in: KK-FamR, § 1671 Rz. 10, 90). Sind sich die Eltern einig, ist dies grundsätzlich zu akzeptieren. Damit relativiert sich aber zugleich die praktische Bedeutung von § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Wenn sich die Eltern einig sind, dass einer die elterliche Sorge ganz oder alleine ausübt, liegt darin eine Ermächtigung, die ein Verfahren nach § 1671 Abs. 1 BGB erübrigt (vgl. OLG Stuttgart, Beschluss v. 9.9.1998, 17 UF 309/98; OLG Zweibrücken, Beschluss v. 2.3.2000, 5 UF 134/99). Die Bedeutung von § 1671 Abs. 2 Nr. 1 BGB liegt deshalb in den Fällen, in denen die Einigung auf keiner gefestigten Grundlage beruht und deshalb Rechtssicherheit geschaffen werden muss oder sich die Eltern mit unterschiedlichen Vorstellungen an das Familiengericht wenden. Kann das Familiengericht gleichwohl ein Einvernehmen herstellen (§ 156 FamFG), liegt darin zugleich die Zustimmung für eine ggf. notwendige Voll- oder Teilübertragung der elterlichen Sorge.
Rz. 69
Die Zustimmung des anderen Elternteils ist an keine Form gebunden, bis zur Entscheidung in letzter Tatsacheninstanz – formlos – widerruflich (OLG Celle, Beschluss v. 12.10.2006, 12 UF 111/06; Schwab, FamRZ 1998 S. 457, 461) und für das Familiengericht grundsätzlich bindend. Eine Begründung des Antrags ist nicht erforderlich, und das Familiengericht nimmt grundsätzlich keine Sachprüfung vor (Ziegler, in: Weinreich/Klein, FamR, § 1671 Rz. 10).
Rz. 70
Keine Bindung entfaltet die Zustimmung, wenn das Kind zumindest das 14. Lebensjahr vollendet hat und der von den Eltern beabsichtigten Regelung widerspricht. Dem Antrag kann dann nur unter den Voraussetzungen des § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB stattgegeben werden, d. h. nach Prüfung, ob die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den Antragsteller dem Kindeswohl am besten entspricht. Ein Vetorecht steht dem Kind nicht zu (BT-Drs. 13/4899 S. 99; Diederichsen, in: Palandt, BGB, § 1671 Rz. 15), wenn auch sein Wille bei der Entscheidungsfindung mit zu berücksichtigen ist (OLG Celle, Beschluss v. 12.10.2006, 12 UF 111/06; OLG Köln, Beschluss v. 18.5.2004, 4 UF 150/03; Beschluss v. 26.7.2004, 4 UF 135/04).
Rz. 71
Keine Bindung entfaltet das Einvernehmen darüber hinaus, wenn dadurch das Kindeswohl i. S. v. § 1666 Abs. 1 BGB gefährdet wird und deshalb abweichende Regelungen zu treffen sind (§ 1671 Abs. 3 BGB). Ergeben sich Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung, muss das Familiengericht von Amts wegen tätig werden. Anlass für eine an § 1666 Abs. 1 BGB ausgerichtete Prüfung kann beispielsweise der Widerspruch eines noch nicht 14 Jahre alten Kindes gegen den einvernehmlichen Vorschlag der Eltern sein (Diederichsen, in: Palandt, BGB, § 1671 Rz. 15). In diesen Fällen stehen die Interessen des Kindes und der Eltern in einem erheblichen Gegensatz, so dass für das Kind i. d. R. ein Verfahrensbeistand zu bestellen ist (§ 158 Abs. 2 Nr. 2 FamFG). Jenseits der hohen Eingriffsschwelle des § 1666 Abs. 1 BGB ist aber die Entscheidung der Eltern umzusetzen, selbst wenn eine andere Lösung für das Kind besser wäre.
2.2.4.2.2 § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB – Aufhebung gemeinsamer Sorge
Rz. 72
Im Rahmen der nicht einvernehmlichen Übertragung der elterlichen Sorge auf den Antragsteller nach § 1671 Abs. 2 Nr. 2 BGB ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob die Aufhebung der gemeinsamen elterlichen Sorge dem Kindeswohl am besten entspricht. Für diese Prüfung sind folgende Grundsätze zu beachten:
Rz. 73
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung enthält die Neuregelung der elterlichen Sorge durch das am 1.7.1998 in Kraft getretene Kindschaftsrechtsreformgesetz kein Regel-Ausnahme-Verhältnis in dem Sinn, dass eine Priorität zugunsten der gemeinsamen elterlichen Sorge besteht und die Alleinsorge eines Elternteils nur in Ausnahmefällen als ultima ratio in Betracht kommt. Es besteht deshalb keine gesetzliche Vermutung dafür, dass die gemeinsame elterliche Sorge im Zweifel die für das Kind beste Form der Wahrne...