Rz. 9
Unter einem Anspruch ist, wie in § 194 Abs. 1 BGB, das Recht auf ein Tun oder Unterlassen eines Dritten zu verstehen, also der durchsetzbare Rechtsanspruch. Wenn und soweit der Anspruch besteht, besteht auch das subjektive Recht des Berechtigten gegenüber dem dafür zuständigen Sozialleistungsträger (§ 12), die Erfüllung dessen, was das Gesetz als Leistungsanspruch vorsieht, verlangen zu können.
Rz. 10
Mit der ausdrücklichen Normierung der Sozialleistungsansprüche als Rechtsansprüche verbietet sich die Annahme, die Leistungen seien lediglich ein Rechtsreflex der öffentlich-rechtlichen Aufgaben der Leistungsträger (BVerwG, Urteil v. 24.6.1954, V C 78.54). Dies war zuvor nämlich für den Bereich der Fürsorgeleistungen, die dem Polizei- und Ordnungsrecht zugehörten, angenommen worden, weil die Hilfeleistungen primär zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, nicht jedoch dem Interesse des Bedürftigen dienten.
Rz. 11
Vor dem Hintergrund, dass ohnehin von einem Rechtsanspruch auf Leistungen ausgegangen wurde, liegt die Bedeutung der Vorschrift in der Abgrenzung zur Ermessensleistung. Diese bleibt einerseits ("soweit") auch nach den besonderen Teilen des SGB möglich. Andererseits muss die Ermessensleistung als Ausnahme vom Anspruchsgrundsatz jedoch ausdrücklich für den zur Leistung verpflichteten Sozialleistungsträger vorgesehen sein, was nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 7/868 S. 29) bedeuten soll, dass im Zweifel von einem Rechtsanspruch auszugehen ist.
Rz. 12
Aber auch bei Ermessensleistungen ist der potentiell daraus Berechtigte nicht ohne "Anspruch". Er hat mindestens den auch gerichtlich überprüfbaren (vgl. § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG) Anspruch auf pflichtgemäße Ausübung des Ermessens nach § 39 Satz 2 (vgl. Komm. zu § 39). Entscheidend ist aber auch für Ermessensentscheidungen, dass § 38 davon nur solche "über die Sozialleistung" erfasst. Nicht unter § 38 fällt daher das Handlungsermessen im Rahmen des Verwaltungsverfahrens und bei der Leistungsgewährung/-erfüllung (z. B. hinsichtlich Art und Umfang; § 26 Abs. 5 SGB VII). Zur Abgrenzung vgl. Komm. zu § 39.
2.2.1 Einzelanspruch
Rz. 13
Unter Anspruch nach § 38 ist nur der Einzelanspruch als einmaliges oder laufendes Forderungsrecht für eine konkrete Sach-, Dienst- oder Geldleistung zu verstehen. Die Vorschriften des 2. Titels zielen auf die Erfüllung der Sozialleistungsansprüche ab (vgl. Vorbem. zu §§ 38 ff.). Sie setzen das Bestehen des konkreten Leistungsanspruchs nach den materiell-rechtlichen Anspruchsgrundlagen der besonderen Bücher (§ 2 Abs. 1 Satz 2), den gesetzlichen Tatbestand für das Entstehen nach § 40, voraus. Unter Anspruch ist ein materiell-rechtlicher Anspruch auf eine Geld-, Sach- oder Dienstleistung und nicht nur ein Verfahrensanspruch auf Bescheidung zu verstehen.
Rz. 13a
Ein solcher Anspruch setzt voraus, dass dieser einem bestimmten Berechtigten zugeordnet werden kann, ein bestimmter Sozialleistungsträger als Verpflichteter feststeht und die Leistung, also das Forderungsrecht inhaltlich feststeht und bestimmt ist.
Rz. 13b
Nur daraus ist auch verständlich, dass § 54 Abs. 4 SGG (neben der Aufhebung eines entgegenstehenden Bescheides) die Verurteilung des Sozialleistungsträgers unmittelbar zur Leistung, also zur Erfüllung des Anspruchs, zulässt (vgl. dazu Schnitzler, NJW 2019, S. 9). In der allgemeinen Praxis wird es grundsätzlich aber für zulässig gehalten, im Klageverfahren die Sozialleistung nur dem Grunde nach zu beantragen. Bei Klageerfolg erlässt der Sozialleistungsträger dann einen "Ausführungsbescheid", mit dem die Höhe der Sozialleistung und die Bezugsdauer festgesetzt werden.
Rz. 14
Diese gesetzlichen Tatbestandsmerkmale werden, insbesondere wenn sie wie im Rentenrecht oder in der Arbeitslosenversicherung laufende Zahlungsansprüche begründen, auch als Stammrecht bezeichnet (vgl. BSG, Urteil v. 23.6.1994, 4 RA 70/93). Das Stammrecht ist nicht erfüllbar, nicht abtretbar oder pfändbar und geht als solches auch nicht auf Rechtsnachfolger über. Dieses Stammrecht entspricht nicht dem Anspruch nach § 38, sondern bezeichnet die Summe der Anspruchsvoraussetzungen für einen daraus folgenden Einzelanspruch als konkretes Forderungsrecht.
2.2.2 Ermessensanspruch
Rz. 15
Die Frage, ob der Leistungsberechtigte einen unbedingten Rechtsanspruch auf eine oder mehrere bestimmte Sozialleistungen hat oder die Verwaltung über die Leistungsgewährung nach Ermessen entscheiden kann, wird durch die Vorschriften der besonderen Bücher bestimmt und von § 38 und § 39 vorausgesetzt. Das Vorliegen einer ausdrücklich die Leistungsgewährung nach Ermessen vorsehenden Vorschrift ist schon wegen des Gesetzesvorbehalts des § 31 für die Verwaltung erforderlich. Auch bei Vorschriften, die Ermessensleistungen zulassen, ist jedoch zu beachten, dass der dafür vorausgesetzte gesetzliche Tatbestand erfüllt ist damit ein Anspruch auf eine Ermessensentscheidung über einen geltend gemachten (konkreten) Anspruch besteht.
Rz. 16
Da § 38 nur die Sozialleistung nach Ermessen betrifft, setzt dies eine Vorschrift voraus, die die Gewä...