Entscheidungsstichwort (Thema)
Geltendmachung eines Anspruchs auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall wegen Nichterbringung der Arbeitsleistung infolge ihrer Quarantäne aufgrund einer festgestellten Infektion mit dem SARS-CoV-2-Virus. Nichtvorlage einer ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Infektion mit dem Corona-Virus als regelwidrige körperlicher Zustand
Leitsatz (amtlich)
1. Krankheit im Sinne von § 3 Absatz 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) setzt einen regelwidrigen körperlichen oder geistigen Zustand voraus. Was regelwidrig ist, bestimmt sich nach dem Stand der (medizinischen) Wissenschaft. Ob der regelwidrige Zustand einer Heilbehandlung bedarf, ist nicht maßgebend.
2. Danach sind auch Infektionen, die - wie solche mit dem sogenannten Corona-Virus - unter das Infektionsschutzgesetz (IfSG) fallen, unabhängig vom Auftreten von Symptomen Krankheiten im Sinne des EFZG, für die der Arbeitgeber zeitlich begrenzt das Risiko trägt, dass die/der Arbeitnehmer/-in aufgrund der Krankheit ihre/seine Arbeitsleistung nicht erbringen kann.
Denn die Infektion als solche stellt bereits einen regelwidrigen körperlichen Zustand dar.
3. Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 3 Absatz 1 Satz 1 EFZG besteht, wenn ein/-e Arbeitnehmer/-in infolge Krankheit ihre/seine vertraglich geschuldete Tätigkeit objektiv nicht ausüben kann oder objektiv nicht ausüben sollte, weil die Heilung nach ärztlicher Prognose hierdurch verhindert oder verzögert würde.
Für die Frage, ob Arbeitsunfähigkeit vorliegt oder nicht, ist auf objektive Gesichtspunkte abzustellen. Die Kenntnis oder die subjektive Wertung der/des Arbeitnehmers/-in sind nicht ausschlaggebend.
4. Eine mit dem SARS-CoV-2-Virus infizierte Arbeitnehmerin ist infolge Krankheit objektiv an ihrer Arbeitsleistung verhindert und kann aufgrund der Erkrankung nicht mehr arbeiten, wenn sie sich in Quarantäne begeben muss. Die Krankheit macht ihr damit die Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung rechtlich unmöglich (§ 275 Absatz 1 Bürgerliches Gesetzbuch [BGB]).
Dies gilt grundsätzlich auch für symptomlos Erkrankte, es sei denn, der Arbeitgeber kann von ihnen verlangen, im Homeoffice zu arbeiten (Anschluss an LAG Hamm 24.08.2023 - 15 Sa 1033/22, Revision beim BAG anhängig unter dem Aktenzeichen 5 AZR 234/23; LAG Schleswig-Holstein 06.07.2023 - 4 Sa 39 öD/23; Abweichung - für den Fall der Symptomlosigkeit - von LAG Thüringen 08.08.2023 - 1 Sa 41/23).
5. Die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit muss, um einen Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 3 Absatz 1 Satz 1 EFZG auszulösen, die alleinige Ursache für den Ausfall der Arbeitsleistung sein (Monokausalität).
6. Vor dem Hintergrund der SARS-CoV-2-Pandemie bedeutet dies, dass der Arbeitnehmer von dem Arbeitgeber Entgeltfortzahlung verlangen kann, wenn die behördlich angeordnete Quarantäne Folge einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ist und nicht nur aufgrund eines Krankheitsverdachts ausgesprochen wurde.
Denn in diesen Fällen ist die Pflicht zur Isolation lediglich Ausfluss der Erkrankung, so dass ihr neben der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit keine selbständige Bedeutung zukommt (Anschluss an LAG Hamm 24.08.2023 - 15 Sa 1033/22).
7. Der Annahme der Monokausalität steht auch § 56 IfSG nicht entgegen. Bei einer Arbeitsunfähigkeit wegen einer SARS-CoV-2-Infektion besteht ein Anspruch des Arbeitnehmers gemäß § 3 EFZG. Führt die Infektion zur Anordnung von Quarantäne, schließt dies den Anspruch auf Entgeltfortzahlung nicht aus.
Die Entschädigungsansprüche sind eine Billigkeitsentschädigung der Allgemeinheit für Notfälle und gegenüber dem Anspruch auf Entgeltfortzahlung nach § 3 Absatz 1 EFZG subsidiär (Anschluss an LAG Hamm 24.08.2023 - 15 Sa 1033/22).
8. Die Krankenkasse kann die Erstattung von Arbeitgeberaufwendungen nach dem Gesetz über den Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen für Entgeltfortzahlung (Aufwendungsausgleichsgesetz - AAG) nicht unter Hinweis auf ein fehlendes ärztliches Attest verweigern.
Der Arbeitgeber kann seinen Erstattungsanspruch nach dem AAG losgelöst von der Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung durch die Arbeitnehmerin gegenüber der Krankenkasse durchsetzen. Die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit ist keine Voraussetzung des Erstattungsanspruchs nach dem AAG; die Erstattung darf hiervon nicht abhängig gemacht werden (Bundessozialgericht 09.09.1981 - 3 RK 51/80).
9. Nach § 7 Absatz 1 Nummer 1 EFZG ist der Arbeitgeber berechtigt, die Fortzahlung des Arbeitsentgelts zu verweigern, solange die Arbeitnehmerin entgegen § 5 Absatz 1 Satz 2 EFZG keine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt. Ist allerdings die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit unstreitig, bedarf es ihres Nachweises nicht (BAG 12.06.1996 - 5 AZR 960/94).
In der Folge besteht auch kein Leistungsverweigerungsrecht nach § 7 Absatz 1 Nummer 1 EFZG, wenn die Arbeitnehmerin ihre krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit anderweitig als durch Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigu...