Entscheidungsstichwort (Thema)
Urlaubsabgeltung. Krankheit. Bezug von Arbeitslosengeld. Rückwirkung
Leitsatz (amtlich)
1) Urlaubsabgeltungsansprüche von dauerhaft erkrankten Arbeitnehmern können auch für Zeiten geltend gemacht werden, die länger als 18 Monate zurückliegen. Art. 9 Abs. 1 des IAO-Übereinkommens Nr. 132 findet keine Anwendung.
2) Für Zeiten, in denen ein Arbeitnehmer bei gleichzeitiger Arbeitsunfähigkeit Arbeitslosengeld I bezieht, entstehen keine gesetzlichen Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche.
Normenkette
BUrlG § 7; RL 93/104/EG; IAO-Übereinkommen Nr. 132 Art. 9
Verfahrensgang
ArbG Solingen (Urteil vom 27.01.2011; Aktenzeichen 1 Ca 1578/10 lev) |
Tenor
1) Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Solingen vom 27.01.2011 – 1 Ca 1578/10 lev – teilweise abgeändert:
Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4.249,16 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.11.2010 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2) Die weitergehende Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.
3) Die Kosten des Rechtsstreits 1. Instanz tragen die Klägerin zu 7/10, die Beklagte zu 3/10; die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin zu 13/25, die Beklagte zu 12/25.
Tatbestand
Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz noch über die Frage, ob die Beklagte verpflichtet ist, den gesetzlichen Urlaubsanspruch der Klägerin abzugelten.
Die am 10.12.1948 geborene Klägerin ist seit dem 14.05.1965 bei der Beklagten als gewerbliche Arbeitnehmerin beschäftigt. Grundlage des Arbeitsverhältnisses der Parteien bildet ein Arbeitsvertrag vom 01.04.1975 (Bl. 11 ff. d. A.), indem es u. a. heißt:
Ziffer 3 – Urlaub
Der jährliche Erholungsurlaub richtet sich nach den Bestimmungen des Manteltarifvertrages der Chemischen Industrie im Regierungsbezirk Köln/Düsseldorf.
Der Urlaub beträgt zur Zeit 21 + 1 Arbeitstage.
Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr.
Der Urlaubsanspruch erlischt am 31. März des Folgejahres.
Der Bruttomonatslohn der Klägerin betrug zuletzt 2.459,95 EUR.
Die Klägerin, die im Jahre 2007 keinen Erholungsurlaub genommen hatte, war seit dem 23.01.2007 durchgehend arbeitsunfähig krank und bezog bis zum 22.07.2008 Krankengeld.
Unter dem 30.06.2008 erteilte die Beklagte der Klägerin eine Arbeitsbescheinigung gemäß § 312 SGB III (Bl. 66 ff. d. A.). In der Bescheinigung für die Bundesagentur für Arbeit bestätigte die Beklagte unter Ziffer 3.4:
Das Beschäftigungsverhältnis ist beendet, das Arbeitsverhältnis besteht jedoch fort (z. B. bei einvernehmlicher unwiderruflicher oder sonstiger Freistellung während der Kündigungsfrist oder Aussteuerung aus dem Krankengeldbezug).
Grund: Aussteuerung
Zeitraum: 22.07.2008
In der Folgezeit erhielt die Klägerin vom 22.07.2008 bis zum 21.08.2010 Arbeitslosengeld. Seit dem 01.07.2010 bezieht sie „vorgezogene Altersrente für Frauen”.
Der spätere Prozessbevollmächtigte der Klägerin kündigte das mit der Beklagten bestehende Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 23.09.2010 fristgerecht zum 31.10.2010 und machte gleichzeitig Urlaubsabgeltungsansprüche für die Jahre 2007 bis 2010 in Höhe von 124 Urlaubstagen geltend (vgl. hierzu Bl. 23 und 24 d. A.). Dies lehnte die Beklagte mit Schreiben ihrer jetzigen Prozessbevollmächtigten vom 26.10.2010 endgültig ab (Bl. 27 ff. d. A.).
Die Klägerin, deren Arbeitsunfähigkeit über den 31.10.2010 und über den 31.03.2011 fortbestand, hat mit ihrer am 08.11.2010 beim Arbeitsgericht Solingen anhängig gemachten Klage ihr Begehren weiterverfolgt und die Zahlung von Urlaubsabgeltung in Höhe von 13.966,12 EUR brutto für 124 Urlaubstage geltend gemacht.
Sie hat die Auffassung vertreten, dass die Beklagte verpflichtet sei, den gesamten ihr zustehenden Urlaub für die Jahre 2007 bis 2010 nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzugelten, da sie aufgrund ihrer durchgehenden Arbeitsunfähigkeit nicht in der Lage gewesen wäre, den Urlaub in Anspruch zu nehmen. Dieser Abgeltungsanspruch, so die Klägerin weiter, beziehe sich nicht nur auf den gesetzlichen Mindest-, sondern auch auf den tariflichen Mehrurlaub nach den Regelungen im Manteltarifvertrag für die Chemische Industrie (MTV Chemie), da dort nicht zwischen den gesetzlichen und den tariflichen Urlaubsansprüchen unterschieden werde.
Entgegen der von der Beklagten vorprozessual geäußerten Meinung sei ihr Abgeltungsanspruch auch nicht auf die letzten 18 Monate beschränkt, weil ein Vertrauensschutz für die Arbeitgeber nach der neuen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts seit dem Jahre 1996 nicht mehr bestehe.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an sie 13.966,12 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz seit dem 06.11.2010 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass sich ein Urlaubsabgeltungsanspruch der Klägerin allenfalls auf den gesetzlichen Mindesturlaub erstrecken könnte, weil die Regelungen im MTV Chemie ein eigenständiges, weitestgehend vom Gesetzesrecht gel...