Leitsatz (amtlich)
Eine multiple Chemikalien-Sensitivität (MCS) kann keiner Listen-BK zugeordnet werden. Es liegen weiterhin keine neuen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft für die Anerkennung des MCS-Syndroms als Wie-BK vor.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 10.03.2023 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer Multiplen Chemikalien-Sensitivität (MCS) als Berufskrankheit (BK) nach der Liste der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) oder als Wie-Berufskrankheit (Wie-BK) streitig.
Der 1954 geborene Kläger war von Januar 1989 bis Juni 2004 als Laborant im Bereich Forschung und Entwicklung bei der C1 AG (Standort: Firma W1, seit 1997 O1 GmbH) in M1 beschäftigt (Bl. 5 f. VA).
Eine Anerkennung seiner Herz- und Leberbeschwerden als BK oder Wie-BK lehnte die BG Chemie als Rechtsvorgängerin der Beklagten (im Folgenden nur noch Beklagte) bereits mit Bescheid vom 05.11.2004 (Bl. 29 VA) in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 08.12.2005 (Bl. 17 ff. VA) ab, da der Kläger bei seiner Tätigkeit als Laborant nicht in gesundheitlich relevantem Ausmaß gegenüber Gefahrstoffen exponiert gewesen sei. Die anschließende Klage blieb erfolglos (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim - SG - 09.05.2007, S 1 U 28/06, Bl. 21 ff. VA); das Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg (L 10 U 3071/07) erklärte der Kläger für erledigt, nachdem sich die Beklagte zur Prüfung verpflichtet hatte, ob seine psychischen Probleme als BK anzuerkennen sind (Bl. 80 f. VA).
Die Anerkennung der seelischen Beschwerden als BK oder Wie-BK lehnte die Beklagte nachfolgend ab (Bescheid vom 07.04.2009, Bl. 127 ff. VA; Widerspruchsbescheid vom 05.08.2009, Bl. 150 ff. VA; nachgehend Gerichtsbescheid des SG vom 25.05.2010, S 14 U 2969/09, Bl. 194 ff. VA). Die Berufung des Klägers wies das LSG Baden-Württemberg mit Urteil vom 21.07.2011 (L 6 U 3018/10, Bl. 338 ff. VA) und der Begründung zurück, die arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 1101 ff. lägen nicht vor; die psychischen Beeinträchtigungen, namentlich eine paranoide Schizophrenie, seien auch nicht als Wie-BK anzuerkennen (nachgehend Bundessozialgericht - BSG - 26.10.2011, B 2 U 233/11 B).
Ein Überprüfungsverfahren nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) wegen der zuletzt genannten Bescheide blieb ebenfalls erfolglos (Bescheid vom 12.10.2012, Widerspruchsbescheid vom 05.12.2012, Gerichtsbescheid des SG vom 28.01.2014, S 13 U 13/13, Bl. 444 ff. VA). Im nachgehenden, ebenfalls erfolglosen Berufungsverfahren (L 6 U 1278/14) holte das LSG Baden-Württemberg auf Antrag des Klägers ein Gutachten nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bei B1 vom 01.11.2014 ein (dazu später).
Mit Bescheid vom 12.10.2012 (Bl. 717 f. VA) in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 05.12.2012 (Bl. 719 f. VA) lehnte die Beklagte die Anerkennung eines reduzierten Lungenvolumens, eines Reizdarms, Rückenschmerzen und einer Verschlechterung des Sehvermögens als BK ab. Den klageabweisenden Gerichtsbescheid des SG vom 11.08.2014 (S 13 U 14/13, Bl. 455 ff. VA) und die angefochtenen Bescheide hob das LSG Baden-Württemberg mit Urteil vom 24.09.2015 (L 6 U 3792/14, Bl. 475 ff. VA) aus verfahrensrechtlichen Gründen auf und wies zugleich die Klage wegen fehlenden Vorverfahrens ab.
Nachfolgend lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Lungenerkrankung (reduziertes Lungenvolumen) als BK 1315, 4301/4302 und als Wie-BK ab (Bescheid vom 19.11.2015, Bl. 661 ff. VA; Widerspruchsbescheid vom 01.06.2016, Bl. 665 ff. VA; nachgehend Gerichtsbescheid des SG vom 04.06.2018, S 12 U 1796/16, Bl. 530 ff. VA; Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 21.09.2021, L 9 U 2536/18, Bl. 545 ff. VA; Beschluss des BSG vom 16.03.2022, B 2 U 172/21 B, vgl. S. 56 ff. SG-Akte). Im Berufungsverfahren L 9 U 2536/18 war auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG das Gutachten bei F1 vom 12.10.2020 (dazu später) eingeholt worden.
Mit Schreiben vom 21.03.2022 beantragte der Kläger die Anerkennung einer MCS als BK oder Wie-BK (Bl. 580 ff. VA). Nach Einholung einer Stellungnahme bei der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e.V. (DGUV; Bl. 883, 892 ff. VA) und bei dem staatlichen gewerbeärztlichen Dienst beim Regierungspräsidium S1 (Bl. 903 VA) lehnte die Beklagte die Anerkennung als BK oder Wie-BK mit Bescheid vom 08.08.2022 (Bl. 920 f. VA) ab.
Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 26.08.2022 (Bl. 924 VA) Widerspruch ein, zu dessen Begründung er im Wesentlichen vortrug, bei seiner beruflichen Tätigkeit als Laborant bei der Firma W1 in M1 sei er über Jahre vergiftet worden durch Gase aus und über die Kanalisation sowie defekte Lüftungssysteme (u.a. durch Schwefelwasserstoff, Thionylchlorid, Zyanid, Alkohole, Ester, Teere). Auf diese Exposition seien seine Beschwerden, insbesondere seine schlechten Leb...