Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Leistungsausschluss für Ausländer. Überbrückungsleistungen. Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten

 

Leitsatz (amtlich)

Nach § 23 Abs 3 S 6 SGB XII kommen (grundsätzlich) auch die Leistungen nach dem 8. Kapitel des SGB XII, also Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten, in Betracht.

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. Mai 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten steht die Gewährung von Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) im Streit.

Der 1961 geborene Kläger ist rumänischer Staatsangehöriger und ist seinen Angaben zufolge 2014 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Seitdem hält der Kläger sich (überwiegend) im Bundesgebiet auf. Versichertes Mitglied bei der AOK B1 (AOK) war der Kläger vom 1. Juni 2015 bis 6. April 2017 und vom 14. April 2017 bis 31. März 2019. Vom Jobcenter Landkreis R1 bezog der Kläger gemäß den Bescheiden vom 24. September 2018 und 24. November 2018 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von Oktober 2017 bis März 2019. Eine Weitergewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts lehnte das Jobcenter Landkreis R1 mit Bescheid vom 20. Februar 2021 ab. Aus dem Ausländerzentralregister ergibt sich ein Wiederzuzug des Klägers am 1. Februar 2017. Polizeilich gemeldet war der Kläger in der Gemeinde W1 vom 1. Februar 2017 bis 7. April 2019 und in der Gemeinde B2 vom 1. August 2019 bis 12. März 2020. Vom 14. April bis 29. Mai 2019 verbüßte der Kläger eine Ersatzfreiheitsstrafe.

Der Kläger befindet sich in einem gesundheitlich schlechten Zustand, lebt im Stadtgebiet der Beklagten mehr oder weniger auf der Straße und wird immer wieder von der Polizei aufgegriffen. Dies führte zu mehreren Klinikaufenthalten in der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik R1. So befand sich der Kläger dort in stationärer Behandlung vom 14. Januar bis 26. März 2021, vom 23. August bis 1. September 2021, vom 20. Oktober bis 4. November 2021 und wieder ab 16. November 2021. Nach dem ärztlichen Kurzgutachten der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik R1 (K1) vom 3.Februar 2021 leidet der Kläger an einer Alkoholabhängigkeit und an einer Demenzerkrankung. Beide Erkrankungen haben beim Kläger zu einer deutlichen Einschränkung der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit geführt. Weiterhin leidet der Kläger an einer Lähmung der linken Hand infolge einer traumatischen Schädigung des nervus radialis. Laut dem ärztlichen Kurzgutachten vom 3. Februar 2021 besteht ein Bedarf an Betreuung, da der Kläger selbst nicht in der Lage ist, sich um seine Angelegenheiten selbstständig zu kümmern. Der Kläger sei komplett sozial isoliert, hilflos und verwahrlost. Vom 26. März 2021 bis 5. August 2021 befand der Kläger sich im Anschluss an eine stationäre Krankenhausbehandlung in der Einrichtung D1 in A1. Dem Kläger steht ein Übernachtungsplatz in der Notübernachtungsstelle der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in R1 zur Verfügung, wo er aber nur tageweise übernachtet. Die AWO sucht er nur unregelmäßig auf.

Mit Beschluss des Amtsgerichts R1 vom 5. Februar 2021 (Aktenzeichen: 6 XVII 57/21) wurde für den Kläger eine Betreuerin bestellt, deren Aufgabenkreis u.a. auch die Aufenthaltsbestimmung, die Gesundheitsfürsorge, Heimangelegenheiten, die Vermögenssorge, die Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern und Wohnungsangelegenheiten umfasst.

Mit Schreiben vom 12. Februar 2021 beantragte die Betreuerin für den Kläger Leistungen nach dem SGB XII. Dabei wurden ausdrücklich Leistungen nach § 67 ff. SGB XII (Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten) zur Überbrückung der derzeitigen Notlage beantragt.

Mit Bescheid vom 9. Juni 2021 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab. Gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII erhielten Ausländer keine Leistungen nach Abs. 1 oder nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, wenn sie kein Aufenthaltsrecht hätten oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergäbe. Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII erhielten hilfebedürftige Ausländer, die Satz 1 unterfielen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zweitraum von einem Monat, Überbrückungsleistungen. Aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen ergäbe sich, dass der Kläger nicht in der Lage sei, sich eine Arbeit zu suchen. Er habe deshalb kein Aufenthaltsrecht und keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII. Er habe sich auch keine fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland aufgehalten. Überbrückungsleistungen in Form von Leistungen gemäß § 67 SGB XII kämen nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII nicht in Betracht. Zu den Überbrückungsleistungen gehörten keine Leistungen für eine Einrichtung nach § 67 SGB XII. Die Kosten für die Unterbringung in der betreuten Wohneinrichtung D1 könnten somit nicht übernommen werden.

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