Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Berufsschadensausgleich. Schädigung vor Abschluss der Schulausbildung. vermutlicher Abschluss ohne Schädigung. Zurückbleiben des ermittelten vermutlichen Schulabschlusses hinter dem tatsächlich erreichten Schulabschluss. Verfassungsrecht. Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. keine zwingende Vermutung eines höheren Abschlusses bei sehr hoher Begabung. unterlassene Möglichkeit des Fernstudiums. Nichtverfolgung eines höheren Bildungsabschlusses aufgrund schädigungsfremder Umstände. Lebenssituation, Kinder und Lebenspartner als mögliche Ursachen. Ausbildungsgrad der Eltern und fehlender Rückhalt in der Familie. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
Orientierungssatz
1. Der vermutliche Schulabschluss nach § 7 Abs 1 S 3 der Berufsschadensausgleichsverordnung (juris: BVG§30Abs3u4u5DV) in der Fassung vom 29.6.1984 (hier: Abschluss der Mittelschule) kann aufgrund des generalisierenden und pauschalierenden Berufsschadensausgleichs bei einer vor Abschluss der Schulausbildung oder vor Beginn der Berufsausbildung erlittenen Schädigung auch hinter dem tatsächlich erreichten Schulabschluss (hier: Abschluss der Fachhochschule) zurückbleiben, ohne dass dies verfassungsrechtlich zu beanstanden wäre.
2. Eine höhere Begabung (hier Intelligenzquotient von 122) liefert noch nicht ausreichend Anhaltspunkte dafür, dass zu vermuten ist, der Betreffende erreiche auch einen entsprechend höheren Abschluss; sie zeigt nur das - im Wege des Berufsschadensausgleichs nicht zu entschädigende - Potential des Geschädigten.
3. Bei fehlenden kognitiven Einschränkungen (hier: bei einer posttraumatischen Belastungsstörung) muss die Nichtverfolgung höherwertiger Berufsabschlüsse nicht schädigungsbedingt sein, sondern kann sich vor dem Hintergrund einer neuen Lebenssituation mit eigenen Kindern und Lebenspartnerschaft erklären lassen.
4. Schädigungsbedingt gestörtes Sozialverhalten oder Anspannungen im zwischenmenschlichen Kontakt hindern den Geschädigten nicht, die allgemeine Hochschulreife mittels Fernunterricht zu erwerben.
5. Als ergänzendes Indiz dagegen, dass ein Geschädigter ein Hochschulstudium abgeschlossen hätte, kann herangezogen werden, dass auch die Eltern keine entsprechende Ausbildung hatten und er im häuslichen Bereich nicht den notwendigen Rückhalt für den Erwerb einer höheren Schul- oder Hochschulbildung hatte.
6. Mit dem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch können keine Handlungen fingiert werden, die vom Berechtigten selbst vorzunehmen sind (wie vorliegend einen bestimmten Schulabschluss zu absolvieren).
Normenkette
BSchAV Fassung: 1984-06-29 § 7 Abs. 1 S. 1; BSchAV Fassung: 1984-06-29 § 7 Abs. 1 S. 2; BSchAV Fassung: 1984-06-29 § 7 Abs. 1 S. 3; BSchAV Fassung: 1984-06-29 § 7 Abs. 1 S. 4; BSchAV Fassung: 1984-06-29 § 3 Abs. 5 S. 2; BSchAV Fassung: 1984-06-29 § 4 Abs. 1; BSchAV § 2 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1991-01-16, § 4 Abs. 1 Sätze 1, 2 Fassung: 1992-10–17; BVG § 30 Abs. 2-6, 14 Fassung: 1990-03-23, § 66a Abs. 1, 2 Fassung: 2000-12-21; OEG § 1; BGB § 839; GG Art. 34; SGG §§ 86, 96 Abs. 1, § 153 Abs. 1
Nachgehend
Tenor
Auf die Anschlussberufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 3. September 2014 teilweise aufgehoben und die Klage umfassend abgewiesen.
Die Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in beiden Instanzen nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten zuletzt noch über die Höhe des Berufsschadensausgleiches.
Die 1979 geborene, mittlerweile verpartnerte Klägerin und selbst Mutter von 2013 geborenen Zwillingen, wuchs, bis sie 10 Jahre alt war, mit ihrer Mutter und deren Lebensgefährten H. R. (im Folgenden: R.) im Haus der Großeltern mütterlicherseits auf, wobei die Großmutter nach dem Tod des Großvaters im Jahre 1986 ihre Bezugsperson war. Anschließend zog die Klägerin mit ihrer Mutter und R. innerhalb der Wohngemeinde um. Ab dem 13. Lebensjahr hielt sie sich dort nur noch an den Wochenenden auf, ihren Lebensmittelpunkt hatte sie wieder zu ihrer Großmutter verlagert, zu der sie auch in der Zeit davor den Kontakt intensiv gepflegt hatte. Sie lebte dort bis zum Abschluss der Hauptschule im Jahre 1994. Anschließend zog sie wieder zu ihrer Mutter und besuchte die Haus- und Landwirtschaftsschule B. M., eine hauswirtschaftlich-sozialpädagogische Berufsfachschule, die sie 1996 mit der Durchschnittsnote 3,0 und der Berechtigung des Realschulabschlusses beendete. Im Mai 1996 kam sie in eine von der Jugendhilfe C. e. V betreute Außenwohngruppe. Von 1996 bis 1997 leistete sie ein Vorpraktikum in einem Kindergarten ab.
Nachdem die Klägerin einen Tag nach ihrem 18. Geburtstag vormittags jeweils zehn Tabletten Lasix und Paracetamol sowie mehrere pflanzliche Kreislauftabletten eingenommen und deswegen am Abend erbrochen hatte, wurde sie im Caritas-Krankenhaus B. M. stationär aufgenommen. Dr. H. diagnostizierte nach dem Entlassungsbericht eine Tablettenintoxik...