Orientierungssatz

Parallelentscheidung zu dem Urteil des LSG Stuttgart vom 22.11.2007 - L 7 AY 4504/06, das vollständig dokumentiert ist.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 17.06.2008; Aktenzeichen B 8 AY 12/07 R)

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 24. Juli 2006 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte verurteilt wird, den Klägern ab 5. April 2005 Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren.

Der Beklagte hat den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Kläger begehren erhöhte Leistungen nach § 2 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in entsprechender Anwendung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII).

Der 1968 geborene Kläger zu 1 und die 1967 geborene Klägerin zu 2 sind verheiratet und Eltern der 1986, 1989, 1991 und 1996 geborenen Kläger zu 3 bis 6. Die Kläger haben die serbisch-montenegrinische Staatsangehörigkeit, stammen aus dem Kosovo und gehören zur Volksgruppe der Roma. Im Jahr 2001 kamen sie als Bürgerkriegsflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland und stellten am 19. April 2001 Asylanträge. Die Asylverfahren sind seit dem 13. Juli 2004 unanfechtbar negativ abgeschlossen (Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 9. Juli 2002); seit dem 13. August 2004 sind die Kläger vollziehbar ausreisepflichtig. Sie sind im Besitz von ausländerrechtlichen Duldungen und beziehen seit dem 19. April 2001 Leistungen nach dem AsylbLG. Zunächst waren die Kläger vom 12. Juni 2001 bis 14. August 2005 in einer Gemeinschaftsunterkunft in Sch untergebracht, seit 15. August 2005 bewohnen sie eine Individualunterkunft.

Am 5. April 2005 beantragten die Kläger "ab sofort" die Gewährung erhöhter Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG. Mit Bescheid vom 3. Mai 2005 lehnte der Beklagte den Antrag ab und führte zur Begründung aus, die Kläger hätten ihre Aufenthaltsdauer rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst, weil eine freiwillige Rückkehr ins Heimatland möglich und auch zumutbar sei. Der ethnischen Minderheit der Roma sei die freiwillige Rückkehr möglich und auch zumutbar. Die Kläger erhoben hiergegen Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juni 2005 zurückwies.

Hiergegen richtet sich die am 11. Juli 2005 zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhobene Klage. Gleichzeitig mit der Klage beantragten die Kläger beim SG einstweiligen Rechtsschutz. Mit Beschluss vom 20. September 2005 lehnte das SG den Antrag ab (S 3 AY 2796/05 ER). Auf die Beschwerde der Kläger änderte der Senat den Beschluss des SG und verpflichtete den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung, den Klägern ab 11. Juli 2005 vorläufig bis zum 11. Januar 2006 Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. dem SGB XII unter Anrechnung der bereits erbrachten Leistungen zu gewähren. Mit Bescheid vom 21. November 2005 hat der Beklagte den Beschluss des Senats ausgeführt.

Zur Begründung der Klage haben die Kläger vorgetragen, sie hätten die Dauer ihres Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Zumindest seit den Märzunruhen im Jahr 2004 im Kosovo habe nicht davon ausgegangen werden können, dass Volkszugehörigen der Roma eine freiwillige Rückkehr in den Kossovo zumutbar gewesen sei (unter Hinweis auf Verwaltungsgerichtshof ≪VGH≫ Baden-Württemberg, Urteil vom 15. November 2005 - InfAuslR 2005, 74 ff.). Zwar sollten Abschiebungen auch von Volkszugehörigen der Roma nach einem Schreiben des Innenministeriums vom 23. Mai 2005 grundsätzlich zwischenzeitlich wieder möglich sein, das Innenministerium beschränke die Möglichkeit der Abschiebung jedoch auf Straftäter, die zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden seien. Auch eine freiwillige Rückkehr von Roma komme nicht in Betracht.

Mit Gerichtsbescheid vom 31. Mai 2006 hat das SG den Beklagten verurteilt, den Klägern die Asylbewerberleistungen in Höhe der Leistungen nach dem SGB XII zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nach § 2 Abs. 1 AsylbLG sei schon vom Wortsinn her nur dann gegeben, wenn die Betroffenen ihre Ausreise in vorwerfbarer Weise vereitelten, z. B. durch Vernichtung von Ausweispapieren. Das bloße Gebrauchmachen von einer Duldung erfülle nicht den Tatbestand des Missbrauchs.

Hiergegen richtet sich die am 28. Juni 2006 beim Landessozialgericht (LSG) eingelegte Berufung des Beklagten. Er verweist darauf, dass der Gesetzgeber nur zwischen denjenigen Ausländern unterscheide, die unverschuldet nicht ausreisen könnten einerseits und denjenigen, die ihrer Ausreisepflicht rechtsmissbräuchlich nicht nachkommen andererseits. Die Vorschriften, die der Angleichung an europäisches Recht (Richtlinie ≪RL≫ 2003/9/EG vom 27. Januar 2003) dienen sollten, seien so zu verstehen, dass auch derjenige "die Dauer des Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst" habe, der nicht ausgereist sei, obgleich er zumutbar hätte ausreisen können. Die rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Au...

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