Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Streitgegenstand. Asylbewerberleistung. Sozialhilfe nach längerer Aufenthaltsdauer. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Unzumutbarkeit der Ausreise
Leitsatz (amtlich)
1. Die Behörde kann die Frage der Leistungsberechtigung nach § 2 AsylbLG grundlegend vorab entscheiden und dadurch aus dem Regelungsgehalt nachfolgender Zeitabschnittsbewilligungen von Leistungen nach §§ 3ff AsylbLG ausgliedern. Das führt im Gerichtsverfahren zu einer Beschränkung des Streitgegenstandes.
2. Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Dauer des Aufenthaltes setzt Zumutbarkeit der Ausreise voraus. Diese kann nicht nur aus zielstaatsbezogenen Gründen (hier: Minderheiten aus dem Kosovo) entfallen, sondern auch bei einer Integration des Ausländers in die hiesigen Lebensverhältnisse. Eine solche ist nicht erst bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs 5 AufenthG 2004 anzunehmen. Für die leistungsrechtliche Besserstellung gelten niedrigere Anforderungen. Insbesondere kann keine wirtschaftliche Integration verlangt werden. Sind minderjährige Kinder in diesem Sinne integriert, ist auch den Eltern die Ausreise unzumutbar.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 24. Juli 2006 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Beklagte verurteilt wird, den Klägern ab 14. Februar 2006 Leistungen nach § 2 AsylbLG zu gewähren.
Der Beklagte hat den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Kläger begehren höhere Leistungen nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) entsprechend dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Die 1968 geborenen Kläger zu 1 und 2 sind verheiratet und Eltern der 1991, 1993, 1995, 1997 und 1999 geborenen Kläger zu 3 bis 7. Die Kläger sind serbisch-montenegrinische Staatsangehörige und stammen aus dem Kosovo. Sie gehören zur Minderheitengruppe der Roma. Der Kläger zu 1 reiste erstmalig am 18. Mai 1993 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte an diesem Tag einen Asylantrag. Dieser ist unanfechtbar abgelehnt seit dem 20. Oktober 1993. Am 14. Juli 1999 stellte er einen Asylfolgeantrag, welcher seit dem 14. Mai 2002 unanfechtbar abgelehnt ist; seither ist der Kläger zu 1 vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. Die Kläger zu 2 bis 7 reisten erstmalig am 15. Juli 1999 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten einen Asylantrag am 22. Juli 1999. Dieser ist unanfechtbar abgelehnt seit dem 28. Oktober 2004. Seit dem 30. November 2004 sind auch die Kläger zu 2 bis 7 vollziehbar zur Ausreise verpflichtet. Die Kläger sind im Besitz von Duldungen der Ausländerbehörde; sie beziehen seit Juli 1999 Leistungen nach den §§ 3 ff. AsylbLG.
Mit Schreiben vom 10. Februar 2006, eingegangen beim Beklagten am 14. Februar 2006, beantragten die Kläger die Gewährung von Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG. Der Beklagte lehnte den Antrag ab und verwies darauf, dass nach Mitteilung des Innenministeriums Baden-Württemberg die Lage im Kosovo die Rückkehr ausreisepflichtiger Kosovo-Albaner zulasse. Auch die freiwillige Rückkehr für die Minderheitenangehörigen u. a. der Roma sei möglich und zumutbar. Die Kläger hätten deshalb die Dauer ihres Aufenthalts rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Eine Ausreise könne objektiv erfolgen. Es lägen keine Hinweise vor, wonach eine Rückkehr aus tatsächlichen Gründen unmöglich sei (Bescheid vom 2. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11. April 2006).
Hiergegen richtet sich die am 25. April 2006 zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhobene Klage. Die Kläger verweisen darauf, dass ein bloßes Nichtausreisen nach der Rechtsprechung des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg allenfalls dann als rechtsmissbräuchlich angesehen werden könne, wenn einer freiwilligen Ausreise keine nachvollziehbaren und/oder gewichtigen Gründe entgegenstünden (unter Hinweis auf Senatsbeschluss vom 15. November 2005 - L 7 AY 4413/05 ER-B - ≪juris≫). Davon könne in ihrem Fall nicht ausgegangen werden.
Mit Urteil vom 24. Juli 2006 hat das SG den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide verurteilt, den Klägern ab Antragstellung Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kläger hätten unstreitig über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten Leistungen nach §§ 3 ff. AsylbLG erhalten und zudem die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst. Rechtsmissbrauch sei nur bei vorwerfbarem Tun oder Unterlassen anzunehmen, das eine Verlängerung des Aufenthalts im Bundesgebiet nach sich ziehe. Er könne nicht angenommen werden, wenn Leistungsbezieher einer vollziehbaren Ausreiseverpflichtung nicht nachkämen, aber im Besitz einer förmlichen Duldung nach § 60a des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) seien und sie die zur Duldung führenden ...