Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. GdB. rückwirkende Feststellung. besonderes Interesse. Beschränkung auf offenkundige Fälle. steuerrechtliche Vorteile. rentenrechtliche Vorteile. Beweismaßstab
Orientierungssatz
1. Es liegt kein ausreichendes besonderes Interesse des Antragstellers iS des § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV für eine rückwirkende Feststellung seiner Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch oder eines anderen GdB vor, wenn die rückwirkende Feststellung eines GdB lediglich mit der Begründung begehrt wird, es könnten noch die Freibeträge nach § 33 Abs 1, § 33b Abs 1 S 1, Abs 3 Einkommensteuergesetz (EStG) geltend gemacht werden, auch wenn steuerrechtlich eine rückwirkende Änderung möglich wäre (vgl §§ 171 Abs 10, 175 Abs 1 Nr 1 Abgabenordnung (juris: AO 1977)).
2. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass rentenrechtliche Vorteile, die mit der Anerkennung der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch (oder ggfs mit einem anderen GdB) zusammenhängen, ein besonderes Interesse des Antragstellers iS des § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV darstellen (vgl zuletzt LSG Berlin-Potsdam, Urteil vom 18.2.2010 - L 11 SB 351/08).
3. In der Rechtsprechung wird - und zwar unabhängig von dem besonderen Interesse des Antragstellers an einer rückwirkenden Feststellung nach § 6 Abs 1 S 2 SchwbAwV - ausgeführt, die rückwirkende Feststellung eines GdB müsse auf offenkundige Fälle beschränkt werden, um den Sinn und Zweck einer Statusentscheidung nicht zu konterkarieren (vgl BSG vom 29.5.1991 - 9a/9 RVs 11/89 = BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44 Nr 3; LSG Berlin-Potsdam, Urteil vom 18.2.2010 - L 11 SB 351/08; LSG Saarbrücken, Beschluss vom 5.11.2002 - L 5 B 12/01 SB). Offenkundigkeit soll hierbei anzunehmen sein, wenn die für die Feststellung erforderlichen Voraussetzungen aus der Sicht eines unbefangenen, sachkundigen Beobachters nach Prüfung der objektiv gegebenen Befundlage ohne Weiteres deutlich zu Tage treten (LSG Berlin-Potsdam, Urteil vom 19.1.2010 - L 11 SB 358/08).
4. Diese Beschränkung auf offenkundige Behinderungen kann sich jedoch nicht auf den Beweismaßstab beziehen, da die Feststellung eines GdB ohnehin bereits den Vollbeweis verlangt und eine Steigerung daher nicht möglich ist.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 11. Dezember 2006 abgeändert.
Das beklagte Land wird unter weiterer Abänderung des Bescheids vom 21. März 2003 in Gestalt der Bescheide vom 22. Juli 2003 und 4. November 2003 und des Widerspruchsbescheids vom 01. April 2004 verpflichtet, bei dem Kläger für die Zeit vom 01. November 2000 bis zum 20. Januar 2003 einen gesamten Grad der Behinderung von 40 (vierzig) festzustellen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Das beklagte Land erstattet dem Kläger ein Viertel der außergerichtlichen
Kosten beider Instanzen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt noch die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 in der Zeit vom 04.01.1998 bzw. vom 01.11.2000 bis zum 20.01.2003.
Der 1943 geborene Kläger beantragte mit Eingang beim damaligen Versorgungsamt Stuttgart am 26.09.2002 erstmals die Feststellung seines GdB und die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises ab dem 04.01.1998. Zur Begründung für die rückwirkende Antragstellung verwies er auf eine “Rentenantragstellung zum 60. Lebensjahr„ und Steuervergünstigungen. Er gab an, er leide an Gesundheitsstörungen der Wirbelsäule durch Bandscheibenvorfälle, der Psyche, einem beidseitigen Tinnitus, starker Migräne und ständigen Knie- und Fußschmerzen. Das Versorgungsamt zog medizinische Unterlagen bei, darunter den Bericht der Neurochirurgischen Klinik am Klinikum Ludwigsburg vom 21.01.2002 (Angabe von Lumbagobeschwerden seit dem 04.01.1998, Operation (Sequestrektomie und Nukleotomie L5/S1) am 14.01.2002) sowie den Entlassungsbericht über eine Anschlussheilbehandlung in der Salinen-Klinik Bad A. vom 24.01. bis 28.02.2002 (Residuales LWS-Syndrom bei Z.n. (Zustand nach) der genannten Operation; V.a. (Verdacht auf) reaktive Anpassungsstörung).
Der Kläger erlitt am 20.01.2003 eine Gehirnblutung und wurde am Folgetag operiert. Das Versorgungsamt zog daraufhin weitere Unterlagen bei. Hierbei ergab sich aus dem Zwischenbericht der Kliniken S., Dr. A., vom 10.04.2003, dass der Kläger bereits im Februar 2002 während der Rehabilitationsmaßnahme in Bad A. einen “Hirninfarkt„ erlitten habe und seitdem mit Marcumar behandelt wurde (bei dem in anderen Unterlagen auch genannten Datum Februar 2001 (so z. B. in dem Entlassungsbericht des Bürgerhospitals Stuttgart, Prof. Dr. B., vom 07.02.2003) handelt es sich um einen Schreibfehler).
Ferner teilte der Kläger am 04.03.2003 mit, ein Tinnitus solle nicht berücksichtigt werden, und es werde eine rückwirkende Feststellung “ab November 2000„ begehrt.
Mit Bescheid vom 21.03.2003 stellte das Versorgungsamt bei dem Kläger für die Zeit vom 01.11...