Entscheidungsstichwort (Thema)
Kassenärztliche Vereinigung. Plausibilitätsprüfung. Berechtigung und Verpflichtung zur Rücknahme unrichtiger und rechtswidriger Honorarbescheide. Verdrängung der Regelungen über die Rücknahme rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte. Vertrauensschutz
Orientierungssatz
1. Eine Kassenärztliche Vereinigung ist generell zur Rücknahme unrichtiger und rechtswidriger Honorarbescheide berechtigt und verpflichtet; denn einzige tatbestandliche Voraussetzung für das Berichtigungsrecht der Kassenärztlichen Vereinigung ist nach der Vorschrift des § 106a Abs 2 S 1 SGB 5 die sachlich-rechnerische Unrichtigkeit der Abrechnungen. Die Vorschrift differenziert dabei nicht danach, in wessen Verantwortungsbereich die sachlich-rechnerische Unrichtigkeit fällt. Sie erfasst alle Unrichtigkeiten der Honorarbescheide und berechtigt zur Rücknahme von Honorarbescheiden, soweit diese dadurch rechtswidrig waren. Ein Fehler der sachlich-rechnerischen Richtigkeit des Honorarbescheids und damit seine Unrichtigkeit iS der Vorschriften ist daher auch gegeben, wenn diese auf Gründen beruht, die nicht dem Verantwortungsbereich des Vertragsarztes zuzurechnen sind (vgl BSG vom 31.10.2001 - B 6 KA 16/00 R = BSGE 89, 62 = SozR 3-2500 § 85 Nr 42 und BSG vom 30.6.2004 - B 6 KA 34/03 R = BSGE 93, 69 = SozR 4-2500 § 85 Nr 11).
2. Die Bestimmungen über die Befugnis einer Kassenärztlichen Vereinigung, ärztliche Honoraranforderung und Honorarbescheide wegen sachlich-rechnerischer Fehler nachträglich zu korrigieren, verdrängen in ihrem Anwendungsbereich die Regelungen der §§ 45ff SGB 10. Sie stellen von den Vorschriften des SGB 10 abweichende Regelungen iS des § 37 SGB 1 dar, die auf gesetzlicher Grundlage, nämlich auf Normen des SGB 5, erlassen worden sind (ständige Rechtsprechung des BSG vgl BSG vom 30.6.2004 - B 6 KA 34/03 R = aaO mwN). Dies bedeutet, dass ein Mitverschulden seitens der Kassenärztlichen Vereinigung an einer Überzahlung rechtlich nicht mit zu berücksichtigen ist.
3. Die Befugnis zu sachlich-rechnerischer Richtigstellung ist "verbraucht", wenn eine Kassenärztliche Vereinigung die Honoraranforderungen des Vertragsarztes in einem der ursprünglichen Honorarverteilung nachfolgenden Verfahren auf ihre sachlich-rechnerische Richtigkeit überprüft und vorbehaltlos bestätigt hat, indem sie zB auf den Rechtsbehelf des Vertragsarztes hin die ursprüngliche Richtigstellung eines bestimmten Gebührenansatzes ohne jede Einschränkung wieder rückgängig macht (vgl BSG vom 14.12.2005 - B 6 KA 17/05 R = BSGE 96, 1 = SozR 4-2500 § 85 Nr 22). Durch solche Überprüfung und Bestätigung entfällt die spezifische Vorläufigkeit eines vertragsärztlichen Honorarbescheides und damit die Anwendbarkeit der Berichtigungsvorschriften. Das Gleiche gilt, wenn eine Kassenärztliche Vereinigung eine Honorarabrechnung im Rahmen eines Vergleiches bestätigt (vgl BSG vom 3.2.2010 - B 6 KA 22/09 B).
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 10.11.2011 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten auch des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen. Der Streitwert wird auf 197.301,73 € festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Berichtigung der Honorarbescheide für die Quartale I/2006 bis IV/2007 wegen Überschreitens der Punktzahlobergrenze aus der Genehmigung der Anstellung einer Ärztin sowie die Rückforderung von insgesamt 197.301,73 €.
Der Kläger ist ein Medizinisches Versorgungszentrum in E.-N., das aus einer Gemeinschaftspraxis hervorgegangen ist.
Mit Bescheid vom 21.11.2003 genehmigte der Zulassungsausschuss für Ärzte im Zulassungsbezirk N. die Zulassung von Dr. S., Praktische Ärztin, zur vertragsärztlichen Versorgung im Rahmen eines Jobsharings und die gemeinschaftliche Praxis mit den bereits niedergelassenen Ärzten, Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. W. R: und hausärztliche Internistin Dr. Sch., ab dem 01.01.2004. In dem Bescheid wurden vom Zulassungsausschuss quartalsbezogene Gesamtpunktzahlvolumen (auf der Basis der Abrechnungsergebnisse der Gemeinschaftspraxis R:/Sch. in den Quartalen II/2002 bis I/2003 zuzüglich 3 % des Fachgruppendurchschnitts) als Obergrenzen für die Leistungserbringung wie folgt festgesetzt:
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II/2002 |
III/2002 |
IV/2002 |
I/2003 |
1.820.827 |
1.755.342 |
1.750.068 |
1.861.130 |
Mit Bescheid vom 01.10.2004 genehmigte der Zulassungsausschuss die Umwandlung der Gemeinschaftspraxis in ein Medizinisches Versorgungszentrum unter Leitung von Dr. R: und Dr. Sch. ab dem 01.10.2004 und sprach zugleich die Genehmigung zur Anstellung von Dr. Sch. aus. Dabei bestimmte der Zulassungsausschuss in Analogie zu § 101 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB V die Fortgeltung der im Bescheid vom 21.11.2003 festgelegten Obergrenzen. Die Genehmigung endete am 31.12.2008 mit dem Ende der Anstellung von Dr. Sch.
Für das Jahr 2005 vergütete die Beklagte dem Kläger ein Gesamthonorar von 391 483,32 €. Mit Bescheid vom 2.7.2008 (Bl. 46a LSG-Akte) forderte die ...