Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende: Übernahme von Schulden aus Stromlieferung. Voraussetzungen der Schuldenübernahme durch den Sozialleistungsträger. Anforderungen an die missbräuchliche Herbeiführung einer Notlage bei Schulden aus Strombezug trotz regelmäßiger Abschlagszahlung
Orientierungssatz
1. Eine drohende Stromsperre wegen aufgelaufener Schulden aus Stromlieferung stellt eine der Fallgestaltung in § 22 Abs. 8 SGB 2 zugrundeliegende vergleichbare Notlage dar, da sich eine Stromsperre unmittelbar auf die Wohnsituation auswirkt. Deshalb kommt auch eine darlehensweise Übernahme von Stromschulden zur Abwendung einer Notlage durch den Sozialleistungsträger in Betracht.
2. Eine durch die drohende Sperrung eines Stromanschlusses wegen ausstehender Verbindlichkeiten gegenüber dem Energieversorger bestehende Notlage ist auch dann anzunehmen, wenn der Betroffene Grundsicherungsempfänger ggfs. im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens vor den Zivilgerichten eine Aufhebung der Sperre erreichen könnte, da ihm die vorrangige Anstrengung eines solchen Verfahrens vor Inanspruchnahme möglicher darlehensweiser Leistungen durch den Grundsicherungsträger im Regelfall nicht zumutbar ist.
3. Hat ein Betroffener monatliche Abschläge auf den Stromverbrauch regelmäßig gezahlt und ergibt sich eine hohe Nachzahlung aus der tatsächlichen Verbrauchsabrechnung, so ist die Annahme einer missbräuchlichen Herbeiführung der durch die Nachforderung bedingten Notlage ausgeschlossen, selbst wenn die Vorauszahlungen ungewöhnlich gering waren.
Normenkette
SGB II § 22 Abs. 8 Sätze 1-2, Abs. 7 S. 2 i.V.m. S. 3 Nr. 2; SGB I § 39
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. August 2012 geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, im Wege eines Darlehens Energiekostenrückstände der Antragsteller in Höhe von zu übernehmen und den Betrag auf das Konto der E GmbH, zu überweisen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe
Über die Beschwerde und den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) hat der Vorsitzende und Berichterstatter wegen der Dringlichkeit der Sache (drohende Stromsperrung am 17. September 2012) zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes ohne vorherige Anhörung des Antragsgegners in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden. Die Beschwerde ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet; im Übrigen (Zuschussgewährung) ist sie nicht begründet und war zurückzuweisen. Den Anordnungsgrund für die gerichtliche Anordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz SGG sieht das Gericht hier aufgrund des glaubhaften Vortrags des Antragstellers als gegeben an, dass er für die Bewohnbarkeit seiner Wohnung auf Strom angewiesen ist. Die Bedeutung der Stromversorgung für die Bewohnbarkeit einer Wohnung ist zudem gerichtsbekannt. Auch ein Anordnungsanspruch im tenorierten Umfang ist gegeben. Als Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch kommt § 22 Abs. 8 Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) in Betracht. Nach Satz 1 der Vorschrift können Schulden übernommen werden, sofern Leistungen für Unterkunft und Heizung erbracht werden und soweit die Schuldenübernahme zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen nach Satz 2 übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Geldleistungen sollen als Darlehen übernommen werden.
Im konkreten Fall ist davon auszugehen, dass die in § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II genannten Voraussetzungen vorliegen. Der Kläger bezieht laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, auch für die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Eine Schuldenübernahme ist zwar nicht zur Sicherung der Unterkunft, aber zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt. Die Stromsperre ist als eine solche vergleichbare Notlage anzusehen, da die Unmöglichkeit der Nutzung von Haushaltsenergie sich unmittelbar auf die Wohnsituation auswirkt (vgl etwa LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Mai 2009 - L 7 AS 546/09 B ER -, LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. Dezember 2008 - L 7 B 384/08 AS - juris). Dem kann auch nicht entgegen gehalten werden, eine Wohnung könne auch ohne Strom etwa bei Beleuchtung mit Kerzen und Nutzung eines Campingkochers bewohnt werden. Im Grundsicherungsrecht ist darauf abzustellen, was zu den soziokulturellen Grundbedürfnissen gehört. Es reicht nicht aus, lediglich den Erhalt des Überlebens unter widrigen Bedingungen zu gewährleisten. In diesem Sinne zählt zu dem sicherzustellenden Bedürfnis auf Leben und Wohnen auch eine funktionierende Stromversorgung (s...