Entscheidungsstichwort (Thema)
Bürgergeld. Unterkunft und Heizung. darlehensweise Übernahme von Mietschulden. Unangemessenheit der Unterkunfts- und Heizkosten. laufende Karenzzeit. noch nicht eingeleitetes Kostensenkungsverfahren. Nichtbestehen einer aktuellen Kostensenkungspflicht. einstweiliges Rechtsschutzverfahren
Orientierungssatz
1. Schuldet der Grundsicherungsträger für einen letztlich nicht absehbaren Zeitraum auch weiterhin Leistungen für unangemessene Kosten der Unterkunft und Heizung, so kann er dem Hilfebedürftigen nicht entgegenhalten, die Schuldenübernahme (unangemessener) Kosten für Unterkunft und Heizung sei nicht geeignet, die Unterkunft iS von § 22 Abs 8 SGB 2 zu sichern.
2. Im Falle der Nichtübernahme der Schulden und der zu befürchtenden fristlosen Kündigung der Wohnung innerhalb der noch laufenden Karenzzeit (vgl § 22 Abs 1 S 2 und 3 SGB 2) und des sich anschließenden Sechs-Monats-Zeitraums (vgl § 22 Abs 1 S 7 SGB 2) würde die mit der Karenzzeit verbundene gesetzgeberische Zielsetzung konterkariert. Auch das BSG hat in seinem Urteil vom 17.6.2010 - B 14 AS 58/09 R = BSGE 106, 190 = SozR 4-4200 § 22 Nr 41 RdNr 26 zumindest angedeutet, dass eine Schuldenübernahme auch bei unangemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung in Betracht kommen kann, solange keine Pflicht zur Kostensenkung besteht.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Mai 2023 geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, Mietschulden des Antragstellers in Höhe von 9.681,83 € als Darlehen zu übernehmen. Die Verpflichtung des Antragsgegners ergeht mit der Auflage, dass die Geldleistungen zur Schuldentilgung und auch die laufenden Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung direkt an die Vermieterin W F überwiesen werden.
Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Instanzen.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe
Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist im Hilfsantrag begründet. Der Antragsteller kann vom Antragsgegner ein Darlehen zur Deckung der aufgelaufenen Rückstände auf Miete, Heiz- und Nebenkosten beanspruchen. Eine Übernahme als Zuschuss, wie im Hauptantrag begehrt, scheidet schon deshalb aus, weil § 22 Abs. 8 Satz 4 Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende, Bürgergeld - (SGB II) regelt, dass Geldleistungen zur Mietschuldentilgung als Darlehen erbracht werden sollen. Ein für eine Zuschussgewährung erforderlicher atypischer Fall, also eine signifikant vom (typischen) Regelfall abweichende Fallgestaltung (vgl Bundessozialgericht ≪BSG≫, Urteil vom 18. November 2014 - B 4 AS 3/14 R = SozR 4-4200 § 22 Nr 80 - Rn 18 mwN), liegt ersichtlich nicht vor. Die Beschwerde war daher insoweit zurückzuweisen.
Ein Anordnungsanspruch des Antragstellers ist gegeben. Er ergibt sich aus § 22 Abs. 8 SGB II. Danach gilt: Sofern Bürgergeld für den Bedarf für Unterkunft und Heizung erbracht wird, können auch Schulden übernommen werden, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist. Sie sollen übernommen werden, wenn dies gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Vermögen nach § 12 Absatz 2 Satz 1 und Absatz 4 Satz 1 ist vorrangig einzusetzen. Geldleistungen sollen als Darlehen erbracht werden.
Bei den streitgegenständlichen Verbindlichkeiten des Antragstellers handelt es sich um Mietschulden. Der Antragsgegner hat Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH) in zutreffender Höhe bewilligt. Die Rückstände wurden allein durch die (teilweise) Nichtzahlung der dem Vermieter geschuldeten Miete und der Abschläge auf Heiz- und Nebenkosten für die von dem Antragsteller genutzte Wohnung verursacht. Der Antragsgegner hat bei dem Antragsteller stets die mietvertraglich geschuldete Gesamtmiete von mtl 683,18 € berücksichtigt und die Leistungen ab 1. Januar 2023 - für die Zeit bis Juni 2023 unter Anrechnung von Einkommen des Antragstellers aus Arbeitslosengeld und ab Juli 2023 in voller Höhe - an den Vermieter ausgezahlt. Die an die Vermieterin zu leistende Nachzahlung wegen aufgelaufener Nichtzahlung des geschuldeten Mietzinses ist daher nicht durch eine Minderleistung des Antragsgegners verursacht worden. Handelt es sich bei den von dem Antragsteller verfolgten Geldleistungen somit - wie hier - nicht um Minderleistungen des Antragsgegners, sondern um Schulden, richtet sich deren Übernahme nach § 22 Abs. 8 SGB II.
§ 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II schützt nach seinem Wortlaut die Wohnung dann, wenn ihr Erhalt durch die Übernahme von Schulden gerechtfertigt ist. Grundsätzlich ist für eine Übernahme der Schulden zu fordern, dass die laufenden KdUH abstrakt angemessen iS des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind. Der mit der Übernahme der Schulden bezweckte langfristige Erhalt einer Wohnung erscheint nämlich nur da...