Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. unangemessene Verfahrensdauer. Entschädigungsklage. Verzögerungsmonate. Störung des Gerichtsbetriebs durch COVID-19-Pandemie. Phasen gerichtlicher Inaktivität zwischen März und Mai 2020. Monate des 1. Corona-Lockdowns. keine dem Staat zurechenbare Verzögerungszeit. längere Erkrankung des zuständigen Richters bzw der zuständigen Richterin. Risikovorsorge durch den Staat. kein Stellungnahme-Monat bei richterlicher Verfügung in das Sitzungsfach. kein Aktivmonat bei bloßer Information über Termin einer anstehenden Entscheidung ohne mündliche Verhandlung
Orientierungssatz
1. Etwaige zwischen März und Mai 2020 aufgetretene Verzögerungen, sei es im Sitzungsbetrieb, sei es im allgemeinen Geschäftsablauf, sind der Corona-Pandemie geschuldet, selbst wenn sich dies nicht unmittelbar den Akten entnehmen lässt (vgl LSG Berlin Potsdam vom 20.1.2023 - L 37 SF 71/22 EK SO).
2. Etwaige in der Zeit ab Juni 2020 aufgetretene Verzögerungen sind dagegen trotz weiterhin geltender Einschränkungen infolge der Corona-Pandemie dem Verantwortungs- und Einflussbereich des Staates zuzuordnen (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 20.01.2023, L 37 SF 71/22 EK SO und L 37 SF 83/22 EK R).
3. Es obliegt dem Staat, die erforderliche Vertretung eines erkrankten Richters bzw einer erkrankten Richterin sicherzustellen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Verzögerungen durch den krankheitsbedingten Ausfall auf ein Maß zu reduzieren, das dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit ausreichend Rechnung trägt (vgl BSG vom 24.3.2022 - B 10 ÜG 2/20 R = BSGE 134 = SozR 4-1720 § 198 Nr 22).
4. Es ist kein Stellungnahme-Monat als Aktivmonat anzusetzen, wenn das Ausgangsgericht durch seine Prozessverfügung (hier Verfügung in das "ET-Fach") deutlich gemacht hat, dass es seine eigenen Überlegungen zu der Rechtssache (vorerst) abgeschlossen hat und eine weitere Stellungnahme der Beteiligten nicht erwartet (vgl LSG Berlin-Potsdam vom 17.2.2021 - L 37 SF 123/20 EK AS).
5. Die Information über den Termin einer anstehenden schriftlichen Entscheidung unterschiedet sich von einer Ladung zur mündlichen Verhandlung und löst ohne nach außen erkennbarer verfahrensfördernder Aktivität keinen Aktivmonat aus.
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) unter dem Aktenzeichen S 26 AS 1755/12 geführten Klageverfahrens eine Entschädigung in Höhe von weiteren 2.500,00 Euro zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 09. April 2020 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte hat 60 %, die Klägerin 40 % der Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt eine weitere Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) (SG) unter dem Aktenzeichen (Az.)S 26 AS 1755/12 geführten Klageverfahrens.
Das Ausgangsverfahren richtete sich gegen das Jobcenter Frankfurt (Oder) (JC). Die Klägerin begehrte die Übernahme von Kosten einer beruflichen Weiterbildung in Höhe von 1.380,00 Euro im Bereich der Musikgeragogik unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 29. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 2012.
Dem beendeten Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:
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13.08.2012 |
Eingang der Klage mit Antrag auf Akteneinsicht; registriert unter Az. S 26 AS 1755/12 |
20.08.2012 |
Eingangsbestätigung und Aufforderung zur Klagebegründung nach Akteneinsicht |
07.09.2012 |
Eingang der Verwaltungsakten im Verfahren S 26 AS 1729/12- Begründungsanforderung |
11.10.2012 |
Ankündigung der Klagebegründung für die 47. Kalenderwoche durch KlBev. |
02.11.2012 |
Eingang der Klagebegründung |
06.11.2012 |
Weiterleitung der Klagebegründung an das JC zur Klageerwiderung |
06.12.2012 |
Eingang der Klageerwiderung |
13.12.2012 |
Weiterleitung der Klageerwiderung an KlBev. zur Kenntnis - Verfügung "ET-Fach" |
30.01.2015 |
Ladung zum Erörterungstermin am 26.02.2015 |
26.02.2015 |
Erörterungstermin in 3 Verfahren der Kl.; diese teilt mit, dass sie die Maßnahme auf eigene Kosten durchlaufen hat |
24.03.2015 |
Übersendung der Sitzungsniederschrift an den KlBev. und das JC |
16.02.2018 |
Schriftsatz des KlBev. mit der Anregung von Ermittlungen |
27.02.2018 |
Information an den KlBev., dass der Kammervorsitzende erkrankt ist |
02.07.2018 |
Eingang der Verzögerungsrüge des KlBev |
01.10.2018 |
Schreiben des SG an Prof. Wickel, Anforderung von Informationen zum Bedarf von Musikgeragogen |
25.10.2018 |
Eingang der Antwort von Prof. W |
02.11.2018 |
Weiterleitung der Antwort an KlBev. und JC zur Stellungnahme binnen 4 Wochen |
07.12.2018 |
Erinnerung des JC, Frist 3 Wochen |
17.12.2018 |
Eingang der Stellungnahme des KlBev. und des JC |
28.12.2018 |
Weiterleitung der Stellungnahmen an die Gegenseite zur Kenntnis und eventuellen Stellungnahme |
10.01.2019 |
Stellungnahme der Klägerin |
09.04.2019 |
Ladung zum Erörterungstermin am 08.08.2019 - Weiterleitung der Stellungnahme der Klägerin an JC zur Kennt... |