Entscheidungsstichwort (Thema)
gesetzliche Unfallversicherung. nachträglich Änderung des Beitragsbescheides gem § 168 Abs 2 Nr 2 SGB 7 bzw § 749 Nr 3 RVO. Unterbleiben einer notwendigen Ermessensausübung. keine Heilung im Wege der Nachholung im gerichtlichen Verfahren gem § 41 Abs 1 Nr 2, Abs 2 SGB 10
Orientierungssatz
1. Die Rücknahme eines Beitragsbescheides nach Maßgabe des § 749 RVO bzw des § 168 Abs 2 SGB 7 bedarf einer Ermessensausübung seitens des Unfallversicherungsträgers.
2. Die Vorschrift des § 41 Abs 2 SGB 10 ermöglicht nicht das erstmalige Anstellen von zuvor unterbliebener Ermessenserwägungen noch während des gerichtlichen Verfahrens. Anders als im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, wonach die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gem § 114 S 2 VwGO "ergänzen" kann, ist eine derartige Regelung im SGG nicht enthalten. Aber auch § 114 S 2 VwGO schafft jedoch lediglich die prozessualen Voraussetzungen dafür, dass die Behörde defizitäre Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen kann, nicht hingegen dafür, dass sie ihr Ermessen nachträglich erstmals ausübt (vgl BVerwG vom 5.9.2006 - 1 C 20/05 = DVBL 2007, 260).
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 12. Juni 2003 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über eine rückwirkende Erhöhung von Beiträgen zur gesetzlichen Unfallversicherung.
Die Klägerin, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts, betreibt ein Taxiunternehmen und ist als solches Mitglied der Beklagten. Für die Jahre 1994 bis 1997 wurden die von der Klägerin zu entrichtenden Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung von der Beklagten zunächst auf der Grundlage der von der Klägerin eingereichten Lohnnachweise festgesetzt und erhoben. Dabei trug die Klägerin erzielte Entgelte in den in den Akten befindlichen Lohnnachweisen für die Jahre 1994 und 1996 jeweils in einen Vordruck unter der Rubrik “Lohnnachweis„ ein, zu dem ausgeführt war: “Hier nur Entgelte aller Beschäftigten unter Berücksichtigung der Mindestentgeltregelung (vgl. Erläuterungen) eintragen; ...„.
Am 14. Mai 1999 erfolgte eine Betriebsprüfung beim Steuerberater der Klägerin, in deren Folge die Klägerin auf entsprechende Anforderung hin mit Datum vom 4. Juni 1999 eine Aufstellung über die in den Jahren 1993 bis 1997 gefahrenen Schichten und Arbeitsstunden und am 14. Juli 1999 Angaben zu gefahrenen Unternehmerschichten an die Beklagte übermittelte. Ein Prüfbericht wurde an die Klägerin am 10. Dezember 1999 abgesandt; in diesem ist angegeben, dass Abweichungen hinsichtlich der Mindestentgelte festgestellt worden seien.
Mit Datum vom 11. Dezember 1999 erließ die Beklagte Beitragsbescheide für die Jahre 1994 bis 1997, die sie mit einer Neufeststellung gemäß § 168 Abs. 2 Sozialgesetzbuch, Siebtes Buch (SGB VII) aufgrund einer Änderung der Berechnungsgrundlagen begründete, was zu höheren Beiträgen zur gesetzlichen Unfallversicherung von insgesamt 13 151,60 DM führte.
Auf den Widerspruch der Klägerin hin erläuterte die Beklagte mit Schreiben vom 26. Juli 2000 die der Beitragserhebung zugrunde liegende Berechnung dahin, dass Angaben der Klägerin über die in den Jahren 1994 bis 1997 gefahrenen Schichten, abzüglich der von den Unternehmern selbst gefahrenen Schichten, zugrunde gelegt und mit dem entsprechenden Mindestentgelt pro Schicht/Tag multipliziert worden seien. So sei es zu den angegebenen Bruttoentgelten gekommen. Eine Neuberechnung könne daher nicht erfolgen. Den aufrechterhaltenen Widerspruch, mit dem die Klägerin ausführte, die Berechnung unter Zugrundelegung von Mindestentgelten nicht zu akzeptieren, wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid ohne Datum (nach ihren Angaben erlassen am 14. November 2001, der Klägerin zugegangen am 20. November 2001) zurück. Zur Begründung verwies sie auf § 22 Abs. 2 ihrer Satzung, wonach bei dem Nachweis des Arbeitsentgeltes eine Mindestentgeltgrenze zu beachten sei. Diese Satzungsbestimmung werde durch § 153 Abs. 3 SGB VII ermöglicht.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Berlin durch Gerichtsbescheid vom 12. Juni 2003 die Beitragsbescheide vom 11. Dezember 1999, jeweils in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 14. November 2001, aufgehoben. Die streitgegenständlichen Beitragsneufeststellungsbescheide würden durch die für eine rückwirkende Beitragserhöhung einschlägigen gesetzlichen Regelungen § 749 Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Beitragsjahre 1994 bis 1996 und § 168 Abs. 2 SGB VII für das Beitragsjahr 1997 nicht gedeckt. Es sei weder eine unrichtige Anmeldung im Sinne des § 168 Abs. 2 Nr. 3 SGB VII erfolgt noch seien die bei der Beklagten eingereichten und der ursprünglichen Beitragsberechnung zugrunde gelegten Lohnnachweise unrichtig im Sinne von § 168 Abs. 2 Nr. 2 SGB VII und § 749 Nr. 3 RVO g...