Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht: Einschränkung der Bewegungsfähigkeit durch Gesundheitsbeeinträchtigung. Voraussetzung der Zuerkennung des Merkzeichens „G“, Anforderungen an die Begutachtung durch einen Sachverständigen

 

Orientierungssatz

1. Ein Sachverständigengutachten im Rahmen der Prüfung einer Zuerkennung des Merkzeichens „G“ für erhebliche Mobilitätseinschränkungen im Straßenverkehr ist nicht deshalb fehlerhaft, weil der durchgeführte Gehtest nur eine Strecke von 400 Metern umfasste, da allein eine Weg-Zeit-Korrelation für sich genommen keine Aussage über eine erhebliche Einschränkung der Bewegungsfähigkeit erlaubt, vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 1987 - 9a RVs 11/87.

2. Erfolgte der Abbruch einer Ergometeruntersuchung im Rahmen der Feststellung von Gesundheitseinschränkungen im Schwerbehindertenrecht wegen Knieschmerzen, so können aus diesem Abbruch keine (negativen) Rückschlüsse auf die Belastbarkeit des Betroffenen hinsichtlich des kardio-pulmonales Leistungsvermögens erfolgen.

3. Einzelfall zur Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ im Zusammenhang mit der Festsetzung eines Grades der Behinderung.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 20. April 2011 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Die 1953 geborene Klägerin, bei der mit Bescheid vom 15. Februar 2005 ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 festgestellt worden war, stellte bei dem Beklagten am 28. Juli 2005 einen Verschlimmerungsantrag. Auf der Grundlage des Gutachtens des Allgemeinmediziners Dr. H vom 25. Januar 2006 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 1. Februar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. März 2006 bei der Klägerin einen GdB von 70 fest, lehnte aber die Anerkennung des Merkzeichens „G“ ab. Dieser Entscheidung legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

a) entzündlich-rheumatische Erkrankung der Gelenke (40),

b) Lungenleiden (30),

c) Anpassungsstörung mit depressivem Erscheinungsbild (20),

d) chronisches Zwölffingerdarmgeschwürleiden (20),

e) Funktionsminderung des Bewegungsapparats infolge Degeneration (20),

f) verheilter Wirbelbruch (20),

g) Schilddrüsenleiden (10).

Mit der beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren auf Zuerkennung des Merkzeichens „G“ weiter verfolgt. Das Sozialgericht hat das im Rentenverfahren erstattete Gutachten des Orthopäden Prof. Dr. S vom 2. Dezember 2008 beigezogen und das Gutachten des Praktischen Arztes M vom 23. November 2009 eingeholt, der nach Untersuchung der Klägerin festgestellt hat, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ bei ihr nicht vorlägen. Gegen das Gutachten hat die Klägerin verschiedene Einwände erhoben: Es sei nicht maßgeblich, ob sie noch in der Lage sei, eine Strecke von 400 m unter acht Minuten zurücklegen zu können. Eine Hochrechnung auf die geforderte Distanz von 2000 m sei nicht zulässig. Zudem habe der Gutachter die bei ihr bestehenden Erschöpfungs- und Schmerzzustände nicht berücksichtigt, obwohl auch diese ihre Wegefähigkeit deutlich reduzierten. Die Klägerin hat weitere Ermittlungen durch ein neurologisch-psychiatrisches Fachgutachten für erforderlich gehalten, möglichst von einem Facharzt mit der Zusatzqualifikation Schmerztherapie.

Mit Gerichtsbescheid vom 20. April 2011 hat das Sozialgericht, gestützt auf das Sachverständigengutachten vom 23. November 2009, die Klage abgewiesen. Folgende Gesundheitsstörungen seien mit Auswirkungen auf die Gehfähigkeit der Klägerin verbunden:

Funktionsminderung der unteren Wirbelsäule,

Reizzustände der Hüft- und Kniegelenke,

rheumatoide Arthritis mit Befall der Füße,

ganz am Rande Polyneuropathie der Füße.

Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen M sei für diese Funktionsbeeinträchtigungen nur ein GdB von insgesamt 40 gerechtfertigt. Auch sei eine besonders ungünstige Auswirkung der Leiden - wie es beispielsweise bei der Versteifung eines Hüftgelenks oder eines Kniegelenks in ungünstiger Stellung der Fall sei - auf die Gehfähigkeit nicht anzunehmen. Ebensowenig liege eine Beeinträchtigung der Gehfähigkeit durch innere Leiden vor. Die ergometrische Belastbarkeit im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung habe 75 Watt betragen, der Abbruch sei nicht aus pulmonalen oder kardialen Gründen erfolgt. Durch die seelischen Leiden der Klägerin werde deren Mobilität nicht beeinträchtigt.

Hiergegen hat die Klägerin Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Sie trägt hierzu vor: Das Sozialgericht hätte sich nicht auf das Gutachten des Prof. Dr. S stützen dürfen, da dieses einen...

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