Entscheidungsstichwort (Thema)

Überlanges Gerichtsverfahren. Angemessenheitsprüfung. Verzögerungszeit. Zuwarten auf Ergebnisse aus Parallelverfahren. Erkennbarkeit für das Entschädigungsgericht. konkrete Anhaltspunkte in den Verfahrensakten. verfrühte Verzögerungsrüge. Verzögerungsbesorgnis. absehbares Überschreiten der zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit. keine Unterbrechung des Entschädigungsverfahrens durch Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Wiedergutmachung auf andere Weise. ausdrückliches Bedauern der unangemessenen Verfahrensdauer in einem Schreiben der Justizverwaltung. kein zusätzlicher Feststellungsausspruch durch das Gericht

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Zuwarten auf Ergebnisse oder Ermittlungen in einem Parallelverfahren kann nur dann als Aktivitätszeit im Ausgangsverfahren gewertet werden, wenn für das Entschädigungsgericht hinreichend erkennbar ist, dass das Ausgangsverfahren wegen des Parallelverfahrens vorerst nicht gefördert wurde (Anschluss an BVerwG vom 20.2.2018 - 5 B 13/17 D = juris RdNr 6).

2. In sozialgerichtlichen Verfahren besteht erst dann im Sinne von § 198 Abs 3 S 2 GVG Anlass zur Besorgnis, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird, wenn aufgrund des bisherigen Verlaufs des Verfahrens bereits absehbar ist, dass das Gericht nicht mehr mit einer zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit auskommen wird (ebenso LSG Darmstadt vom 24.8.2022 - L 6 SF 11/21 EK AS = juris RdNr 43).

 

Orientierungssatz

1. Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Entschädigungsklägers tritt keine Unterbrechung des Entschädigungsverfahrens nach § 240 S 1 ZPO ein.

2. Der erkennende Senat geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass für eine gerichtliche Feststellung nach § 198 Abs 4 GVG kein Raum ist, wenn das beklagte Land die Verfahrensüberlänge in irgendeiner Form bereits anerkannt und Bedauern hierüber zum Ausdruck gebracht hat. Dies gilt auch in solchen Fällen, in denen grundsätzlich eine Feststellung der Verfahrensüberlänge nach Maßgabe des § 198 Abs 4 S 3 Halbs 2 GVG in Betracht käme, etwa bei Fehlen einer wirksamen Verzögerungsrüge (vgl hierzu Senatsurteil vom 6.5.2022 - L 37 SF 216/20 EK AS).

 

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerinnen tragen die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerinnen begehren Entschädigung wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht (SG) Potsdam unter dem Aktenzeichen S 45 AS 1343/16 geführten Klageverfahrens.

Die Klägerin zu 1) und ihre 2011 geborene Tochter, die Klägerin zu 2), bezogen vom Jobcenter (JC) Teltow-Fläming Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). In dem Ausgangsverfahren wandten sie sich gegen einen (Änderungs-)Bescheid des JC vom 29.04.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.06.2016.

Mit dem Bescheid vom 29.04.2016 hatte das JC den Klägerinnen unter teilweiser Aufhebung eines vorangegangenen Bescheids vorläufig Leistungen nach dem SGB II für den Monat Juni 2016 in Höhe von insgesamt rund 605,- € bewilligt. Den Widerspruch, mit dem die Klägerinnen geltend gemacht hatten, dass es an einer Begründung für die Vorläufigkeit der Leistungsbewilligung fehle, hatte das JC (mit dem bereits erwähnten Widerspruchsbescheid vom 22.06.2016) zurückgewiesen, und zwar unter Hinweis darauf, dass sich der angefochtene Bescheid vom 29.04.2016 durch den zwischenzeitlich ergangenen Ablehnungsbescheid vom 12.05.2016 (betrifft: Ablehnung des Leistungsantrags „ab dem 01.03.2016“) erledigt habe. Die im Juli 2016 erhobene Klage zielte auf die Verurteilung des JC ab, die vorläufig festgestellten Leistungen für endgültig zu erklären. Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 14.01.2020 erklärten die Klägerinnen und das JC den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt (zum Ablauf des Ausgangsverfahrens im Einzelnen siehe die tabellarische Übersicht unten).

Neben dem Ausgangsverfahren waren weitere Verfahren beim SG Potsdam anhängig, und zwar von April bis Juni 2017 ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren (Aktenzeichen: S 45 AS 654/17 ER), im Januar 2018 ein weiteres einstweiliges Rechtsschutzverfahren (Aktenzeichen: S 45 AS 38/18 ER) und ab Oktober 2018 ein Klageverfahren (Aktenzeichen: S 45 AS 1837/18). In dem Klageverfahren wandten sich die Klägerinnen gegen einen Bescheid des JC vom 25.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.10.2018. Der angefochtene Bescheid war auf einen Überprüfungsantrag der Klägerinnen nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ergangen, wobei Gegenstand der Überprüfung ein Bescheid / mehrere Bescheide vom 09.08.2016 war / waren. Mit der Klage begehrte die Klägerin zu 1) letztlich einen höheren Zuschuss nach § 27 SGB II für den Zeitraum von März bis Juni 2016, während sich die Klägerin zu 2) gegen eine Erstattungsforderung für einen vor Juni 2016 liegenden Zeitraum wandte. Mit Schriftsatz vom 16.01.2019 gab das JC ein Teilanerkenntnis dahingehend ab, dass es sich verpflichtete, der Kläg...

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