Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. einstweiliger Rechtsschutz. lebensbedrohliche Erkrankung. Zumutbarkeit der stationären Unterbringung
Leitsatz (amtlich)
1. Bei einem an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leidenden Antragsteller ist die grundrechtsrelevante Frage der Zumutbarkeit der bisherigen Unterbringung bzw des Anspruchs auf eine anderweitige Unterbringung und Versorgung auch im einstweiligen Rechtsschutz eingehend zu prüfen. Weil ein Verweis auf ein Hauptsacheverfahren nicht zumutbar ist, darf sich das Gericht in einem solchen Fall nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl BVerfG vom 19.3.2004 - 1 BvR 131/04 = NJW 2004, 3100) nicht auf eine summarische Prüfung beschränken.
2. Der Eintritt einer lebensbedrohlichen Situation bei einem Schwerstkranken macht jedenfalls dann die weitere stationäre Unterbringung nicht unzumutbar, wenn das Heim aufgrund des Vorfalls technische Vorkehrungen getroffen hat, welche ausschließen, dass ein gleichartiges Ereignis erneut eintritt.
3. Ein Kranker, der aufgrund der Schwere seiner Erkrankung nicht mehr in der Lage ist, sich zu bewegen und dessen Kommunikationsvermögen weitgehend aufgehoben ist, hat gegenüber dem Sozialhilfeträger keinen Anspruch auf Ausgleich dieses Mangels durch Bereitstellung einer persönlichen Rund-um-die-Uhr-Betreuung.
4. Der Wechsel in ein anderes Heim ist jedenfalls dann zumutbar, wenn dieses Heim an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen ist und der Anfahrtsweg für Besuche nur unwesentlich verlängert wird.
5. Der Vorrang einer ambulanten vor einer stationären Unterbringung gilt gemäß § 13 Abs 1 S 3 und 4 SGB 12 nicht, wenn unverhältnismäßige Mehrkosten bei ambulanter Unterbringung entstehen würden.
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Hamburg vom 15. Dezember 2005 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 15. Dezember 2005, der das Sozialgericht nicht abgeholfen und die es dem Senat zur Entscheidung vorgelegt hat (§ 174 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), ist zwar zulässig (§§ 172, 173 SGG), aber unbegründet.
Der Antragsteller hat im einstweiligen Anordnungsverfahren keinen Anspruch auf Übernahme des ungedeckten Teils der ambulanten Rund-um-die-Uhr-Betreuungskosten durch den Antragsgegner im Falle einer Unterbringung in einer Privatwohnung statt einer stationären Einrichtung.
Gemäß § 86 b Abs. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des Absatzes 1 (einstweiliger Rechtsschutz bei Anfechtungsklagen) nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Satz 1). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2).
Es bestehen Zweifel, ob der Antragsgegner für die Entscheidung über eine Leistungsgewährung zum Zwecke einer Wohnungsnahme in Hamburg zuständig ist. Gemäß § 98 Abs. 1 Satz 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) ist der Träger für die Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich sich die Leistungsberechtigten tatsächlich aufhalten. Für die stationäre Leistung ist der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich die Leistungsberechtigten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung haben oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hatten (Abs. 2 Satz 1). Ausnahmen hiervon gibt es u.a. bei Eilsachen (Abs. 2 Satz 3). Nach Abs. 5 der genannten Regelung bleibt der Träger der Sozialhilfe für die Leistungen an Personen, die Leistungen in Formen ambulanter betreuter Wohnmöglichkeit erhalten, örtlich zuständig, der vor Eintritt in diese Wohnform zuletzt örtlich zuständig war. Der Senat brauchte im einstweiligen Anordnungsverfahren diesen Zweifeln - insbesondere, ob die angestrebte Anmietung einer eigenen Wohnung mit Betreuung durch einen ambulanten Pflegedienst eine Form ambulanter betreuter Wohnmöglichkeit darstellt - nicht nachzugehen. Der Antragsgegner hat seine eigene Zuständigkeit bisher angenommen. Angesichts der Dringlichkeit der Eilentscheidung hat der Senat von der Beiladung eines weiteren Sozialhilfeträgers abgesehen.
Vorliegend fehlt es - unabhängig von der Frage eines Anordnungsgrundes - an einem Anordnungsanspruch. Im Hinblick auf die besondere Situation des Antragsstellers und in Anbracht dessen, dass hier eine grundrechtsrelevante Frage letztlich unter (weitgehender) Vorwegnahme der Hauptsache zu entscheiden ist, hat der Senat sich entsprechend den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts (vgl. 19.3.04 - 1 BvR 131/04, NJW 2004, 3100) nicht auf die rein summarische Prüfung beschränkt, sondern die Sach- und Rechtslage eingehen...