Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Feststellung des Grades der Behinderung bei einem Wirbelsäulenschaden. Bildung eines Gesamt-GdB
Orientierungssatz
1. Wirkt sich eine Schädigung der Halswirbelsäule nicht durch motorische oder sensible Ausfallerscheinungen im Bereich der Arme bzw. Hände aus, kann nicht von besonders schweren Auswirkungen der Schädigung ausgegangen werden, so dass die Zuerkennung eines höheren GdB als 40 nicht angemessen ist.
2. Eine mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewertende Tinnituserkrankung, die neben einem Wirbelsäulenleiden auftritt, führt nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB, da die Tinnituserkrankung ein gesondertes Funktionssystem betrifft, das nicht zu Wechselwirkungen und in diesem Zusammenhang zu einer Verschlimmerung des Krankheitsbildes Wirbelsäulenleiden führt.
3. Einzelfall zur Bildung eines Gesamt-GdB bei verschiedenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen (hier: Wirbelsäulenleiden und Tinnitus).
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stralsund vom 1. Dezember 2009 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig zwischen den Beteiligten ist im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Höhe des festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) des Klägers ab 2002.
Der 1943 geborene Kläger beantragte erstmals am 30. September 2002 unter Hinweis auf eine bestehende Hörminderung/Tinnitus, Wirbelsäulen-, Schilddrüsen-, Prostata- und Nierenbeschwerden die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft.
Der Beklagte holte zunächst Befundunterlagen der den Kläger behandelnden Ärzte ein. Der Facharzt für Urologie Dr. Kl teilte am 24. Oktober 2002 die Diagnosestellung eines konservativ behandelten Prostataadenoms und eine normale Nierenfunktion mit. Die HNO-Ärztin Dipl. Med. Bu diagnostizierte eine chronisch adhäsive Otitis media rechts kombiniert mit einer Schwerhörigkeit rechts sowie einen Tinnitus links. Die Tinnitus-Beschwerden hätten sich unter Behandlung gebessert und würden nur noch zeitweise auftreten. Die Allgemeinmedizinerin Dipl. Med. Er teilte eine Schilddrüsenentzündung mit schwankenden Werten mit. Die Orthopädin Frau Se beschrieb im Bereich der HWS eine mittelgradige Osteochondrose mit gering höhengeminderten Bandscheibenräumen C5 bis C7 mit Einengung des Foramen intervertebrales C5/6 durch Osteophytenbildung, des Weiteren eine Streckfehlhaltung der LWS mit deutlichen spondylarthrotischen Veränderungen in den kaudalen Abschnitten sowie Einengung des Kanales intervertebrales für die L4-Wurzel. Im Bereich beider Kniegelenke und des Beckens wurde von diskreten bzw. geringgradigen degenerativen Veränderungen berichtet.
Der Beklagte erkannte zunächst mit Bescheid vom 21. Februar 2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juli 2003 einen GdB von 30 an. Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht Stralsund (S 5 SB 38/03) wurden zunächst neuerlich Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt. Dipl. Med. Bu teilte am 01. Dezember 2003 mit, der Kläger habe sich nochmals am 17. März und 07. April 2003 wegen rezidivierender Ohrenschmerzen links vorgestellt, auch das Ohrgeräusch würde linksseitig wieder vermehrt auftreten. Die Beschwerden seien vertebragen bedingt gewesen, klinisch habe ein reizloser Ohrbefund bestanden. Dipl. Med. Se teilte folgende Diagnosestellungen mit:
1. Bandscheibenvorfall C5/C6 rechts mit spinaler Stenosierung cervicaler Myelopathen, Grenzbefunde auch in den Segmenten C3/C4 und C6/C7
2. chronische Mastviditis mit direktem Innenohrkontakt
3. degenerative LWS mit rezidivierender Lumboischialgie
4. beginnende Globalgonarthrose beidseits
5. Coxarthrose beidseits
Die Allgemeinmedizinerin Dipl. Med. Er wies zusätzlich auf einen seit April 2003 bestehenden Diabetes mellitus Typ II a hin.
Das Sozialgericht holte darüber hinaus ein orthopädisches Gutachten von Prof. Dr. Ka und ein internistisches Gutachten von Prof. Dr. It ein. Prof. Dr. Ka stellte in seinem Gutachten vom 21. Oktober 2004 einleitend fest, dass sich der Kläger vorzeitig in Altersrente begeben habe und bei einem GdB von 50 einen vollen Rentenanspruch beanspruchen könnte. Folgende orthopädische Diagnosen wurden gestellt:
1. cervicoencephales Syndrom bei cervicalem Nucleaus Pulposus Prolaps und beginnender cervicaler Myelopathie
2. rezidivierende Lumboischialgie links
3. Chondropathie und incipiente Verschleißverformung li. HG und re. ≫ li. Kniegelenk
Die gravierendste gesundheitliche Beeinträchtigung stellte nach Einschätzung des Gutachters ein Bandscheibenvorfall im Bereich der unteren Halswirbelsäule dar, der das Nervenrohr nachweislich bedränge. Diese Einengung habe eine verminderte Verschiebefähigkeit des Nervenrohres nicht nur in Ruhe sondern auch bei Bewegungen jeder Art zur Folge, der Liquorpuls könne sich nicht über diese Barriere hinweg ausbreiten und es liege eine schwere Läsion im osteopathischen Sinne bezüglich des betrof...