Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Hilfe zur Pflege. stationäre Pflege. Unterbringung in einem Alten- und Pflegeheim. Verweis auf eine bedarfsgerechtere Pflege in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe. Obliegenheit zu Antragstellung und Heimwechsel
Leitsatz (amtlich)
Im Rahmen der vorrangigen Selbsthilfe (§ 2 Abs 1 SGB XII) besteht keine „Obliegenheit“ zur Stellung eines Antrags auf Eingliederungshilfe. Ein die Menschenwürde nach Art 1 Abs 1 GG und Art 1 S 1 des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK; juris: UNBehRÜbk; BGBl II 2008, 1419) wahrendes Recht der Eingliederungshilfe, das die Autonomie, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung behinderter Menschen anerkennt, hat auch die individuelle Entscheidung zu achten und zu respektieren, auf Hilfe zu verzichten. Eine Mitwirkungspflicht, durch die Inanspruchnahme von Eingliederungshilfe eine "Besserung" des Betroffenen zu erreichen, verfolgt kein legitimes Ziel; es gibt keine "Vernunfthoheit" staatlicher Organe über die Grundrechtsberechtigten (vgl BVerfG vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 = BVerfGE 152, 68 RdNr 127 mwN).
Orientierungssatz
Für den Anspruch auf stationäre Hilfe zur Pflege kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die Pflege des Betroffenen auch bzw nach Auffassung des Sozialhilfeträgers unter dem Gesichtspunkt der sog „Heimnotwendigkeit“ nach den Umständen des Einzelfalles „bedarfsgerecht“ nur in einer Einrichtung der Eingliederungshilfe gewährleistet werden kann. Aufgrund des aus § 9 Abs 1 SGB 12 abgeleiteten Bedarfsdeckungsgrundsatzes ist allein maßgeblich, dass der Bedarf des Betroffenen gegenwärtig in dem von ihm bewohnten Alten- und Pflegeheim gedeckt wird.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 25. März 2021, durch den der Eilantrag des Antragstellers abgelehnt worden ist, geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, Heimpflegekosten des Antragstellers für seinen Aufenthalt im Alten- und Pflegeheim G., H., I., in monatlicher Höhe von 1.529,29 € sowie Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge in monatlicher Höhe von 209,92 € ab dem 1. Februar 2021 bis zu einer Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers vom 5.11.2020 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26.10.2020, längstens bis zum 31. Juli 2021, vorläufig zu übernehmen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Instanzen zu erstatten.
Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe
I.
Im Streit sind vorläufige Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Hilfe zur stationären Pflege für die Zeit ab Anfang 2021, insbesondere der Wechsel von einem Pflegeheim in eine Einrichtung der Eingliederungshilfe.
Bei dem 1969 geborenen, übergewichtigen (Adipositas per magna Grad III), allein- und unter Betreuung stehenden Antragsteller liegen diverse Erkrankungen vor (u.a. Diabetes mellitus Typ 2, Bluthochdruck, venöse Insuffizienz, Inkontinenz, Vorhofflimmern), insbesondere eine rezidivierende depressive Störung ohne psychotische Symptome und eine passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung. Er ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 80 und dem Merkzeichen G anerkannt. Nachdem die ambulante Betreuung des Antragstellers an seinem Wohnort J., einer im Kreisgebiet des Antragsgegners gelegenen Stadt, wegen Antrieblosigkeit, Immobilität und einer stark vernachlässigten Körper- und Gesundheitspflege sowie Wundschäden nicht mehr ohne drohende Verschlechterung seines Gesundheitszustands (u.a. Gefahr der Blutvergiftung) möglich gewesen ist (vgl. das im betreuungsgerichtlichen Verfahren eingeholte Gutachten des Dr. K., Bochum, vom 12.1.2019), wurde er Anfang Februar 2019 in dem in I. gelegenen Alten- und Pflegeheim G. aufgenommen (derzeit zu monatlichen Kosten von 3.304,29 €). Sein damaliger Betreuer hatte sich zuvor bei mehr als 15 Pflegeheimen in Wohnortnähe vergeblich um eine Aufnahme des Antragstellers bemüht. Für die nicht durch die Leistungen der Pflegekasse nach einem Pflegegrad 4 (derzeit in monatlicher Höhe von 1.775,00 €; Bescheid der AOK NordWest - Pflegekasse - vom 6.1.2020) und die Erwerbsminderungsrente des Antragstellers (derzeit in monatlicher Höhe von 375,05 €) gedeckten Kosten des Aufenthalts kam der Antragsgegner bis Ende 2020 auf. Die Bewilligung von Hilfe für den notwendigen Lebensunterhalt in Einrichtungen nach § 27b SGB XII und stationärer Hilfe zur Pflege nach §§ 61 ff. SGB XII erfolgte bis Ende Oktober 2020 für befristete Zeiträume (Bescheide vom 22.5. und 2.8.2019 sowie vom 13.1. und 28.4.2020).
Mit Schreiben vom 26.10.2020 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit, dass nach einer Stellungnahme der Fachwirtin der Alten- und Krankenpflege L., einer Mitarbeiterin seines Pflegemanagements, ein Umzug in eine geeignete Einrichtung der Eingliederungshilfe empfohlen und e...