Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Anspruchseinschränkung. selbst zu vertretende Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen. fehlende Mitwirkung bei der Passbeschaffung. Pflichten der Ausländerbehörde. Einreise zum Zweck des Leistungsbezuges. prägendes Motiv. Analogleistung. rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. unentschuldbares Verhalten
Orientierungssatz
1. Die Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs 3 S 1 AsylbLG setzt ein ernsthaftes Bestreben der Ausländerbehörde voraus, den Betroffenen in sein Heimatland zurückzuführen. Zu diesem Zweck muss sie ihn hinreichend konkret zur Mitwirkung im aufenthaltsrechtlichen Verfahren aufgefordert und gemäß § 82 Abs 3 S 1 AufenthG 2004 auf seine Verpflichtungen nach den §§ 48, 49 AufenthG 2004 hingewiesen haben.
2. Voraussetzung der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs 2 S 1 AsylbLG ist, dass der Leistungsbezug das prägende Motiv für die Einreise gewesen ist. Bei der Untersuchung der Motivationslage sind alle konkreten Umstände des Einzelfalles zu erforschen und zu würdigen.
3. Nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalles, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit), kann zum Ausschluss von Analogleistungen führen (vgl BSG vom 17.6.2008 - B 8/9b AY 1/07 R = BSGE 101, 49 = SozR 4-3520 § 2 Nr 2).
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Stade vom 11. Februar 2020 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern vom 1. Januar 2020 bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über die Zeiträume vom 1. Dezember 2019 bis 29. Februar 2020 (Bescheide vom 25.11.2019 und 6.2.2020) und 1. März 2020 bis 31. Mai 2020 (Bescheid vom 26.2.2020), längstens jedoch bis zum 31. Mai 2020, vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG i.V.m. dem 5GB XII unter Anrechnung bereits für diesen Zeitraum gewährter Leistungen zu gewähren.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller für beide Instanzen zu erstatten.
Gründe
1. Die nach § 1a AsylbLG eingeschränkte Leistungen beziehenden Antragsteller begehren im Wege des Eilrechtsschutzes Leistungen nach § 2 AsylbLG.
Die im Jahr 1993 geborenen Antragsteller zu 1. und 2. mit der Volkszugehörigkeit der Roma leben mit dem am 7.9.2019 geborenen Antragsteller zu 3. und drei weiteren minderjährigen Kindern (*11.6.2013, *21.6.2014, *18.1.2016) in einer Mietwohnung in E. in einem gemeinsamen Haushalt. Sie beziehen seit Mitte Januar 2015 Leistungen nach dem AsylbLG von der für den Antragsgegner handelnden Gemeinde E.
Die Antragstellerin zu 2. reiste erstmals im Jahr 2011 nach Deutschland ein und nach erfolglosem Asylantrag am 7.4.2012 wieder aus. Am 28.12.2014 reiste sie gemeinsam mit dem Antragsteller zu 1. (dieser erstmals) und zwei der seinerzeit schon geborenen Kinder nach Deutschland ein. Im Asylverfahren teilte der Antragsteller zu 1. zunächst im Rahmen der Antragstellung mit, er sei 1993 in Pristina/Kosovo geboren, wobei er die Frage nach der Staatsangehörigkeit offen ließ. Er verfüge über keine Identitätspapiere. Die Antragstellerin zu 2. hat einen serbischen Pass.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte mit Bescheid vom 11.8.2016 den Asylantrag der Antragstellerin zu 2. vom 8.6.2016 und mit Bescheid vom 29.8.2016 den Asylantrag des Antragstellers zu 1. als offensichtlich unbegründet ab, nachdem der Antragsteller zu 1. im Anhörungsverfahren angegeben hatte, über keine Ausweis- oder Identitätspapiere zu verfügen. Seine Versuche, im Kosovo oder in Serbien Papiere zu bekommen, seien aufgrund seines Alters und dem Umstand, dass seine Mutter ebenfalls keine Ausweispapiere habe, gescheitert. Er habe nur ein Jahr lang die Schule besucht und keine Ausbildung absolviert. Vor seiner Ausreise nach Deutschland habe die von ihm in Belgrad bewohnte Baracke unter Wasser gestanden. Dorthin wolle er unter keinen Umständen zurückgehen.
Die Antragsteller zu 1. und 2. sind seit dem 16.9.2016 vollziehbar ausreisepflichtig und verfügen fortlaufend über Duldungen mit der auflösenden Bedingung des Erlöschens bei Vorlegen von Ausweispapieren . Der Antragsteller zu 1. beantragte mit Schreiben vom 13.1.2017 und am 25.8.2017 unter Vorlage jeweils eines Arbeitsangebotes eine Beschäftigungserlaubnis.
Mit Schreiben vom 15.2.2017 forderte die Ausländerbehörde die Antragsteller zur freiwilligen Ausreise unter Abschiebungsandrohung auf. Zudem wurde der Antragsteller zu 1. belehrt, dass er verpflichtet sei, an der Beschaffung von Identitäts-/Reisepapierenmitzuwirken. Am 6.3.2017 erklärte sich der Antragsteller zu 1. schriftlich zur freiwilligen Ausreise bereit und stellte gleichzeitig klar, nicht, wie in dem Erklärungsbogen vorgefertigt, kosovarischer, sondern serbischer Staatsangehörigkeit zu sein. Sein Vorsprechen im serbischen Generalkonsulat am 10.4.2017 zum Zwecke der Beschaff...