Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Misshandlungen in der Kindheit. Beweiserleichterung. Glaubhaftmachung. spätes Wiedererinnern. Erlebnisbasiertheit der Aussage. Scheinerinnerung. Langfristigkeit der Erinnerung an traumatische Erlebnisse. Unzuverlässigkeit von zeitweise nicht zugänglichen Erinnerungen. kein Rückschluss von Gesundheitsschäden auf Gewalttaten als Ursache. Berücksichtigung von anderen Erkenntnisquellen neben den Angaben des Antragstellers. Ausschluss der Glaubhaftmachung bei Vorhandensein von Zeugen. keine Anwesenheit der Zeugen bei den konkreten Ereignissen erforderlich. Vorwurf der Vernachlässigung und körperlichen Misshandlung durch die Mutter. Angaben zur familiäre Atmosphäre

 

Orientierungssatz

1. Nach Kenntnis des Senates geht die ganz herrschende Lehrmeinung im Bereich der Gedächtnisforschung davon aus, dass späte und sukzessive Tatschilderungen eher Zweifel an der Erlebnisbasiertheit begründen. Diese Erkenntnis hat der Senat zum Gegenstand seiner ständigen Rechtsprechung gemacht (vgl LSG Celle-Bremen vom 21.9.2017 - L 10 VE 25/14) und hält hieran auch weiterhin fest.

2. Traumatische Erlebnisse können in der Regel besonders langfristig erinnert werden und generell ist davon auszugehen, dass emotional bedeutsame Ereignisse besonders dauerhaft behalten und in der Regel auch explizit erinnert werden können.

3. Zeitweise nicht zugängliche Erinnerungen können somit gerade nicht als zuverlässig eingestuft werden.

4. Aus dem Vorliegen bestimmter Gesundheitsstörungen kann nicht auf konkrete Ursachen rückgeschlossen werden (vgl LSG Celle-Bremen vom 29.9.2016 - L 10 VE 44/11 und LSG Essen vom 23.2.2018 - L 13 VG 26/14).

5. Zwar enthält § 15 KOVVfG eine Beweiserleichterung, wonach die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen sind, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Diese Vorschrift enthält aber kein Verbot, andere Erkenntnisquellen (hier: Berichte der Verwandten über die familiäre Atmosphäre in der Familie) - als die Angaben des Antragstellers - bei der Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage einzubeziehen.

6. Die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG ist ausgeschlossen, wenn Zeugen vorhanden sind. Hiervon ist bei behaupteten körperlichen Misshandlungen in der Kindheit durch einen Familienangehörigen auch dann auszugehen, wenn dem Zeugen die vermeintlichen Ereignisse nicht konkret bekannt gewesen sind bzw er nicht unmittelbar dabei gewesen war, er aber zur häuslichen Gemeinschaft der Familie gehört hat.

7. Zum Phänomen des "späten Wiedererinnerns" an angebliche Misshandlungen in der Kindheit.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 04.01.2022; Aktenzeichen B 9 V 22/21 B)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 16. November 2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Der Senat entscheidet in Anwendung von § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch einstimmigen, zurückweisenden Beschluss der berufsrichterlichen Mitglieder des Senats, weil er den Sachverhalt für geklärt und eine weitere mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält.

II. Der Kläger begehrt die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetztes (BVG).

Der 1943 geborene Kläger beantragte im September 2014 bei dem Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie die Gewährung von Beschädigtenversorgung und machte geltend, als Kind den Misshandlungen seiner Mutter F. ausgesetzt gewesen zu sein. Seine Mutter sei 1991 verstorben. Bis heute leide er psychisch und physisch unter den Folgen. Beigefügt war dem Antrag ein Vermerk vom 10. September 2014 der Mitarbeiterin des Opferhilfebüros G. H., über ein mit dem Kläger geführtes Erstgespräch. Danach hatte der Kläger im Opferhilfebüro seine Lebensgeschichte geschildert, wonach er als unerwünschtes Kind von seiner psychisch kranken Mutter gequält worden sei. Diese habe sich zwar nicht getraut, ihn zu töten, ihn aber immer wieder durch unterlassene Hilfeleistung nahe an den Tod getrieben. So habe er sich als Vierjähriger beim Spielen oberhalb der Augenbraue verletzt und stark geblutet, ohne von seiner Mutter versorgt worden zu sein. Nur durch die Hilfe eines Nachbarn sei sein Verbluten verhindert worden. Als unterernährtes Kind habe er mehrere Monate im Krankenhaus verbringen müssen, sei sogar ins Koma gefallen. Bereits im Kleinkindalter sei er von seiner Mutter in eine dunkle Abstellkammer gesperrt worden. Dort habe er nichts zu essen bekommen. Bis ins Jugendalter sei ihm immer wieder Nahrung vorenthalten und dies an die älteren Geschwister gegeben worden. Seine Mutter habe ihm Kissen in das Gesicht gedrückt und erst kurz vor dem Erstickungstod von ihm abgelassen. Seine Mutter habe auch versucht, ihn in der Badewanne mit kochendem Wasser zu ...

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