Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Behauptung sexuellen Missbrauchs in der Kindheit durch Onkel in einem Doppelstockbett. tätlicher Angriff. Bestreiten des Beschuldigten. Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG. Glaubhaftmachung. Vollbeweis. Tatzeuge. Wiedererinnern von Traumata. kein Rückschluss von psychiatrischer Diagnose auf Schädigungsvorgang

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Wiedererinnerung von Traumata in Fällen des sexuellen Missbrauchs.

Aus bestimmten ärztlich gestellten psychiatrischen Diagnosen kann nicht auf einen schädigenden Vorgang zurückgeschlossen werden.

 

Orientierungssatz

Die Beweiserleichterung des § 15 S 1 KOVVfG ist nicht anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang Zeugen vorhanden sind (hier: Anwesenheit des Bruders in unmittelbarem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang bei behaupteten Geschehnissen des sexuellen Missbrauchs durch den Onkel in einem Doppelstockbett).

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 23. August 2016 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung von Schädigungsfolgen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).

Die 1973 geborene Klägerin beantragte am 25. April 2013 bei dem Niedersächsischen Landesamt für Soziales, Jugend und Familie die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG mit der Begründung, in verschiedenen Nächten in den Jahren 1983/1984 im Doppelstockbett ihres Kinderzimmers in Greifswald von ihrem Onkel mütterlicherseits, I., wiederkehrend sexuell missbraucht worden zu sein. Er sei nachts in das Zimmer von ihr und ihrem Bruder gekommen und sei mit Händen - oft mit beiden Händen gleichzeitig in beide Körperöffnungen - und Zunge in ihre Genitalien eingedrungen, was für sie sehr schmerzhaft gewesen sei. Er habe sie gewürgt und schmerzhaft ihre Beine auseinandergedrückt, habe gedroht, sie zu erwürgen, wenn sie etwas sage. Sie sei mit Samen bespritzt und an den Haaren gezogen worden. Ihr sei bis heute nicht bekannt, ob ihr Bruder, der 7-jährig in dem Bett über ihr gelegen habe, etwas darüber wisse. Sie sei damals 10 bis 11 Jahre gewesen. Ein Ermittlungsverfahren bei der Staatsanwaltschaft Stralsund zum Aktenzeichen 526 Js 10240/13 sei wegen Verjährung der Tat nicht durchgeführt worden. Bei ihr sei eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostiziert worden, ihren Alltag könne sie nur sehr schwer bewältigen. Sie leide täglich an schweren Kopfschmerzen mit Erbrechen, Herzrasen, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und plötzlichen Ohnmachtsanfällen, für die es keine medizinische Erklärung gäbe.

Das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie leitete den OEG-Antrag an das Landesamt für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern zur weiteren Bearbeitung weiter. Dieses zog medizinische Unterlagen betreffend die Klägerin sowie die Akten der Staatsanwaltschaft Stralsund bei. Darüber hinaus veranlasste es eine schriftliche Stellungnahme des J., der unter dem 16. August 2014 ausführte, im angegebenen Tatzeitraum ca. 15-16 Jahre alt gewesen zu sein. Zwar sei es zutreffend, dass er seine Schwester - die Mutter der Klägerin -, ihren Partner und ihre Kinder hin und wieder besucht habe. Damals habe seine Schwester in einer 2 ½-Raumwohnung gewohnt. Nach Feierabend und zum Frühstück sei immer die gesamte Familie im Haus gewesen. Ihm sei unerklärlich, wie der von der Klägerin behauptete, angeblich durch ihn verübte sexuelle Missbrauch unter diesen Umständen hätte unbemerkt bleiben können. Ein sexueller Kontakt oder ein Missbrauch habe nicht stattgefunden. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales Mecklenburg-Vorpommern lehnte mit Bescheid vom 9. Dezember 2014 den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, dass das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen täglichen Angriffs weder nachgewiesen, noch glaubhaft gemacht worden sei. Den gegen diesen Bescheid eingelegten Widerspruch der Klägerin wies es mit Widerspruchsbescheid vom 4. Januar 2016 zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 8. Februar 2016 Klage beim Sozialgericht (SG) Lüneburg erhoben, mit der sie die Gewährung von Beschädigtenrente begehrt hat. Zur Begründung hat sie auf die bei ihr gestellten Diagnosen verwiesen sowie auf den Umstand, dass es für sie wegen der Verjährungsfristen strafrechtlich und zivilrechtlich „nichts zu gewinnen“ gegeben habe. Die Strafanzeige sei nur verständlich, wenn die Anzeige als Teil der Aufarbeitung der Tat verstanden werde. Das SG hat zur weiteren Aufklärung des medizinischen Sachverhalts einen Befundbericht der behandelnden Ärztin der Klägerin beigezogen und sodann in dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 23. August 2016 die Zeugen K., I. und L. vernommen. Sodann hat das SG mit Urteil vom selben Tage die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass das Vorliegen eines vorsätzlichen rechtswidrigen ...

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