Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe für Ausländer. Aufenthalt einer jungen Mutter beim Kindesvater und dessen Familie entgegen einer räumlichen Beschränkung. Beschränkung der Leistungen auf das unabweisbar Gebotene. verfassungskonforme Bestimmung im Einzelfall. Unzumutbarkeit einer Rückkehr in das Gebiet der räumlichen Beschränkung. Schutz der Familie. örtliche Zuständigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die "unabweisbar gebotenen Leistungen" für Ausländer bei einem Verstoß gegen eine ausländerrechtliche räumliche Beschränkung sind nach den Umständen des Einzelfalles verfassungskonform zu bestimmen.

2. Liegen Gründe vor, die einen Verbleib am Ort des tatsächlichen Aufenthalts zwingend erfordern oder eine Rückkehr in das Gebiet der räumlichen Beschränkung unzumutbar erscheinen lassen, kann die unabweisbar gebotene Hilfe auch Leistungen umfassen, die bis zu den regulären Leistungen der Hilfen nach dem SGB XII reichen können.

3. Die örtliche Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers richtet sich auch bei einem Verstoß gegen eine ausländerrechtliche räumliche Beschränkung grundsätzlich nach dem tatsächlichen Aufenthalt des Ausländers.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 20. Juli 2015 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin bis zum rechtskräftigen Abschluss des beim Sozialgericht Braunschweig anhängigen Klageverfahrens - S 32 SO 124/15 -, längstens jedoch bis zum 31. März 2016, folgende Leistungen vorläufig und unter dem Vorbehalt der Rückforderung zu erbringen:

Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt

für die Zeit vom 1. Juli bis 20. Oktober 2015 in Höhe von monatlich 374,40 €

für die Zeit vom 21. Oktober bis 31. Dezember 2015 in Höhe von monatlich 320,00 €

und ab 1. Januar 2016 in Höhe von monatlich 324,00 € sowie

Hilfe bei Krankheit und Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft ab 28. August 2015.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat 2/3 der außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für das Beschwerdeverfahren zu erstatten. Weitere Kosten für das Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die im Februar 1997 geborene Antragstellerin ist kosovarischer Staatsangehörigkeit und war am 17. Februar 2012 als unbegleitete Minderjährige nach Deutschland eingereist. Am 21. Mai 2012 wurde sie von der Polizei in R. aufgegriffen und gab in einem Gespräch mit der Dolmetscherin an, dass sie “verheiratet„ worden sei, unter dem Druck stehe, möglichst schnell schwanger werden zu müssen und sexuellen Übergriffen und Gewalttätigkeiten ihres “Ehemannes„ und dessen Familie ausgesetzt sei. Sie habe keine Papiere, bei der Einreise nach Deutschland habe sie sich als Schwester ihres “Mannes„ ausgeben müssen und wolle zurück in den Kosovo.

In der Folgezeit wurde die Antragstellerin unter die Amtsvormundschaft des Jugendamts gestellt und in verschiedenen Kinder- und Jugendschutzeinrichtungen in O., W., A. und M. untergebracht. Ein im Oktober 2012 gestellter Asylantrag wurde mit Bescheid vom 25. Dezember 2012 abgelehnt. Nachdem die Antragstellerin zunächst befristete Duldungen nach § 60 a Abs. 1 Aufenthaltsgesetz erhalten hatte, wurde ihr am 13. Februar 2013 eine bis zum 10. Februar 2015 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt. Seither ist sie im Besitz von Fiktionsbescheinigungen, zuletzt befristet bis 15. November 2015, die verbunden sind mit den Regelungen: “Wohnsitznahme Stadt W.„ und “die Ausübung einer Erwerbstätigkeit ist nicht gestattet„.

Jedenfalls seit März 2015 hält sich die Antragstellerin bei ihrem ebenfalls kosovarischen “Verlobten„ C. (im Folgenden: Verlobter) in S. auf, wo sie zwischenzeitlich auch ordnungsbehördlich gemeldet ist, und lebt dort im Haushalt dessen im Leistungsbezug nach dem SGB II bzw. AsylbLG stehender Familie. Da sie von ihrem Verlobten ein Kind erwartete und deshalb beabsichtigte, weiter in Seesen zu wohnen, beantragte die Antragstellerin bei der Stadt Wilhelmshaven die Streichung der Wohnsitzauflage. Diesen Antrag lehnte die Stadt W. mit Bescheid vom 2. Juni 2015 ab mit der Begründung, das Ausländeramt des Antragsgegners habe mit Schreiben vom 4. Mai 2015 einem Umzug nicht zugestimmt, weil dieser weder der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft mit einem aufenthaltsberechtigten Ehepartner oder minderjährigen Kindern diene, noch die Antragstellerin pflegebedürftig oder für die Pflege aufenthaltsberechtigter naher Angehöriger unabdingbar sei. Gegen diesen Bescheid ist ein Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg anhängig (11 A 2538/15).

Am 20. März 2015 beantragte die Antragstellerin unter Hinweis auf ihre Mittellosigkeit und die bestehende Schwangerschaft bei der Beigeladenen zu 1 und dem Antragsgegner die Gewährung existenzsichernder Leistungen. Der Antragsgegner verwies auf die Zuständigkeit des Beigeladenen zu 2, der wiederum die Antragsunterlagen an die Asylbewerberleistungsabteilung der Beigeladenen zu 1 ...

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