Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistungen. Leistungsberechtigter. vollziehbare Ausreisepflicht. Ausreisepflicht. Fehlen eines erforderlichen Aufenthaltstitels. serbischer Staatsangehöriger. Befreiung von der Visumpflicht für Kurzaufenthalt von bis zu 90 Tagen. beabsichtigter Daueraufenthalt in Deutschland. Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht. unerlaubte Einreise
Leitsatz (amtlich)
Eine titelfreie (dh visumfreie) Einreise ist nur dann als erlaubt anzusehen, wenn der beabsichtigte Aufenthaltszweck auch nur auf einen Kurzaufenthalt iS von Art 4 Abs 1 EU-VO 2018/1806 (juris: EUV 2018/1806) gerichtet ist. Beabsichtigt der Ausländer schon bei der Einreise einen Aufenthalt, der wegen der Überschreitung des zeitlichen Rahmens eines Visums bedurft hätte, besteht für die Anwendbarkeit der Befreiungsvorschrift kein Raum (Fortführung von LSG Celle-Bremen vom 28.8.2014 - L 8 AY 53/14 B ER = Asylmagazin 2015, 359).
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 6. März 2023 aufgehoben.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit ab dem 30. Januar 2023 bis zur Entscheidung über ihren Leistungsantrag vom 30. November 2022 vorläufig lebensunterhaltssichernde Leistungen nach dem AsylbLG zu gewähren.
Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin für beide Instanzen zu erstatten.
Gründe
I.
Streitig ist die vorläufige Gewährung existenzsichernder Leistungen nach dem AsylbLG für die visumsfrei nach Deutschland eingereiste drittstaatsangehörige Antragstellerin.
Die 1970 geborene Antragstellerin ist serbische Staatsangehörige und bezieht eine Waisenrente von ca. 10.200,00 Dinar (= 86,96 €) monatlich. Sie hielt sich in der Vergangenheit mehrfach in der Bundesrepublik auf und stellte auch einen Asyl- bzw. Asylfolgeantrag, der zuletzt rechtskräftig abgelehnt wurde. Daraufhin reiste sie am 23.6.2016 aus der Bundesrepublik aus. Sie lebte dann nach eigenen Angaben bei ihren in Serbien lebenden Eltern, die zwischenzeitlich verstorben sind. Die Antragstellerin leidet unter einer paranoiden Schizophrenie mit aggressivem Verhalten (ärztliches Attest der Fachärztin für Allgemeinmedizin Kurz vom 13.10.2022). Nach eigenen Angaben reiste sie zuletzt am 31.8.2022 „visumsfrei“ mittels ihres serbischen Passes in die Bundesrepublik ein, um hier zu wohnen und von ihrem in Deutschland lebenden Bruder sowie ihrer Schwägerin unterstützt zu werden. Dort ist sie seit dem 15.10.2022 gemeldet.
Am 9.11.2022 beantragte die Antragstellerin durch ihren Prozessbevollmächtigten bei der Ausländerbehörde des Antragsgegners die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und hilfsweise die Ausstellung einer Duldung unter Hinweis auf ihre Reiseunfähigkeit.
Am 30.11.2022 wandte sich die Schwägerin im Auftrag der Antragstellerin per E-Mail an den Antragsgegner und bat um die Ausstellung eines „Krankenscheins“ und die Gewährung von „sozialen“ Leistungen. Mit E-Mail vom 19.12.2022 teilte die vom Antragsgegner herangezogene Stadt A-Stadt (im Folgenden Stadt) auf eine Sachstandsanfrage der Schwägerin der Antragstellerin vom gleichen Tage mit, dass nach dessen Rückmeldung die Antragstellerin sich lediglich als Touristin in Deutschland aufhalte und damit keinen Anspruch auf Leistungen habe. Eine entsprechende Mitteilung werde der Antragsgegner in den nächsten Tagen direkt dem Prozessbevollmächtigten übersenden. Mit anwaltlichem Schreiben vom 20.12.2022 erhob die Antragstellerin Widerspruch gegen die E-Mail vom 19.12.2022, über den bislang nicht entschieden ist.
Die Antragstellerin hat am 30.1.2023 beim Sozialgericht (SG) Lüneburg den Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel der vorläufigen Bewilligung von Leistungen nach dem AsylbLG beantragt, weil sie völlig mittellos sei. Eine Duldung sei nicht Voraussetzung für eine Leistungsbewilligung. Ihre Leistungsberechtigung ergebe sich aus § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG, weil sie vollziehbar ausreisepflichtig sei.
Der Antragsgegner hat eingewandt, Anträge nach dem AsylbLG zwecks Statusprüfung mit der Ausländerbehörde abstimmen zu müssen, die darauf verweise, dass der Antragstellerin eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilt werde und auch die Voraussetzungen für eine Duldung nicht vorliegen würden. Der gegen die E-Mail vom 19.12.2022 erhobene Widerspruch werde als unzulässig zurückgewiesen werden müssen, weil es an einem Verwaltungsakt fehle. Aufgrund ihrer illegalen Einreise habe die Antragstellerin keinen Leistungsanspruch. Das genaue Einreisedatum sei nicht bekannt, es sei aufgrund der Erkrankung und des ausgestellten Attestes jedoch davon auszugehen, dass die Einreise im Oktober 2022 erfolgt sei. Das ärztliche Attest bescheinige keine generelle Reiseunfähigkeit. Zudem fehle es an einem förmlichen Leistungsantrag.
Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 6.3.2023 abgelehnt, weil die Antragstellerin nicht leistungsberechtigt i.S.d. § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 8 AsylbLG...